Nur wer sich im Alltag selbständig und sicher bewegen kann, wird selbstbestimmt und in Würde altern. Dabei geht es nicht so sehr um das Zurücklegen langer Strecken, sondern vielmehr um die Schlüsselmobilität Gehen, die den Zugang zu allen anderen Mobilitätsformen ermöglicht.

Mobilitätskonzepte für die Altersgruppe 50plus

Bekanntermaßen verschlechtert sich mit zunehmendem Alter die physische und sensorische Leistungsfähigkeit des Menschen, was, sofern nichts dagegen unternommen wird, sowohl den schleichenden als auch den plötzlichen Verlust der Schlüsselmobilität nach sich ziehen kann. Angesichts der demografischen Entwicklung wird aus diesem individuellen Problem dann ein gesellschaftliches. Natürlich bietet der Markt technischen Ersatz, jedoch ist dieser selten optimal für den Nutzer. Die Schwachstellen zu definieren und neuartige Mobilitätskonzepte zu entwerfen ist erklärtes Ziel der Forschergruppe „SilverMobility – Nahfeldmobilitätskonzepte für die Altersgruppe 50+“ im Rahmen des Thüringer Innovationszentrums Mobilität (ThIMo).

Die Schlüsselmobilität Gehen im Nahfeld

Befindet man sich im Nahfeld, d. h. dem häuslichen Bereich von 1-20 m und dessen Umfeld bis ca. 1 km, spielt die natürliche Form der Mobilität des Menschen, das Gehen, die Hauptrolle. Darüber hinaus wird die Hauptlast der täglichen Wege mittels anderer Verkehrsmittel getragen, laut der Studie „Mobilität in Deutschland 2008“ [1] allen voran durch den Motorisierten Individualverkehr (MIV). Im Zielgebiet angekommen, ist das Gehen aber wieder unverzichtbar. Das Gehen stellt das Fundament jeglicher Mobilität dar. Egal ob PKW, Zweirad oder ÖP(N)V, man muss zuerst gehen, um ein Verkehrsmittel nutzen zu können.

Herausforderungen des Alters

Ältere Menschen verlieren Muskelkraft und Muskelmasse [2, 3, 5]. Sarkopenie beschreibt den charakteristischen Verlust von Muskelmasse durch den Alterungsprozess [4, 7], wobei die Muskelabnahme schon im Alter von ca. 25 Jahren beginnt [6]. Hinzu kommen Einschränkungen der sensorischen Fähigkeiten, wie zum Beispiel beim Gleichgewichtssinn. Nicht selten steht der Verlust des Gehen-Könnens auf dem Spiel, was den Verlust des Schlüssels zu allen anderen Mobilitätsformen bedeutet. Zwar tritt nahezu vollständiger bis vollständiger Verlust in der Regel erst in hohem Alter oder durch Krankheit ein, doch ist dieser Prozess einmal im Gang, befindet man sich bereits in einer Abwärtsspirale, die die Lebensqualität erheblich mindert. Zur Dek­kung des täglichen Bedarfs, was nicht nur das Beispiel Lebensmittel betrifft, sondern auch soziale Kontakte, ist Mobilität unverzichtbar, wenn der Anspruch auf Selbstbestimmtheit und damit würdevollem Altern gewahrt bleiben soll.

Altersmobilität im Kontext der aktuellen demografischen Entwicklung

In den Industriestaaten steht einem wachsenden Anteil alter Menschen ein schwindender Anteil junger Menschen gegenüber, woraus sich in Zukunft ein Missverhältnis ergeben wird, das im Endeffekt die gegenwärtig etablierten sozialen Sicherungssysteme in Frage stellt. Auch die Mobilität wird davon betroffen sein. Genauer gesagt, der Ersatz oder die Wiedererlangung verloren gegangener Mobilität bzw. der Ausgleich der Folgen durch verloren gegangene Mobilität. Einer Vorausberechnung im Rahmen der Studie „Demografischer Wandel in Deutschland“ [8] folgend, wird es in Deutschland im Jahr 2030 deutlich weniger junge, dafür aber mehr alte Menschen (65 und mehr Jahre) als heute geben. Diese Gruppe, in der die Verfügbarkeit des Einzelnen über seine natürliche Mobilität nicht mehr selbstverständlich, aber Grundvoraussetzung in Bezug auf Selbstversorgung und damit der Wahrung einer gewissen Lebensqualität für den Einzelnen sowie der sozialen Sicherungssysteme für alle ist, wird die Nachfrage nach Mobilitätshilfen forcieren.

Verschiedene Gründe werden dafür ausschlaggebend sein, allen voran der Ersatz verloren gegangener natürlicher Mobilität als Schlüssel zu allen anderen Mobilitätsformen. Hinzu kommen möglicherweise weitere Treiber, die zum Beispiel aus dem Zukunftsszenario der Energie- und Ressourcenknappheit oder der Altersarmut resultieren könnten und Alternativen zu den derzeit gewohnten Mobilitätsformen erforderlich machen. Tatsache ist, dass die derzeit verfügbare Palette an Hilfen (nicht nur technischer Art) für mobilitätseingeschränkte Personen Verbesserungspotential birgt, welches ausgeschöpft werden sollte, um den gegenwärtigen, insbesondere aber den kommenden Ansprüchen gewachsen zu sein. Kann der Bedarf in Zukunft nicht zufriedenstellend gedeckt werden, wird das Problem der gegenwärtig kleinen Gruppe dann angesichts des demografischen Wandels das einer ganzen Gesellschaft.

Probleme mit verfügbaren Mobilitätshilfen und ihrer Vermarktung

Die klassischen Mobilitätshilfen, wie Rollstühle und Rollatoren sind in unserer Gesellschaft negativ assoziiert und werden nur im Falle der Angewiesenheit auf selbige zwangsweise akzeptiert. Wer eine derartige Mobilitätshilfe braucht, fühlt sich häufig ausgegrenzt [9]. Dadurch besteht eine gewisse Hemmschwelle beim zukünftigen Nutzer, sich überhaupt mit Alternativen zu beschäftigen und es bilden sich die Polarisierungen „gesund“ und „krank“ heraus.

Die Studie „Mobilität in Deutschland“ hat gezeigt, dass so lange wie möglich auf etablierte Verkehrsmittel, allen voran das Auto, gesetzt wird [1]. Dabei gibt es zwischen den beiden Mobilitätsgruppen „gesund“, d. h. übliche Nutzung etablierter Verkehrsmittel und „krank“, d. h. Angewiesenheit auf Hilfsmittelkatalog noch eine dritte Gruppe, die ihren Ursprung im Freizeit-, Sport- und Spaßbereich hat und die eine Vielzahl an neuartigen Ideen birgt. Da bei dieser Kategorie Mobilitätsmittel aber der Spaßeffekt und Lifestyle im Vordergrund stehen bzw. die Geräte auch darauf getrimmt sind, sind sie für die alltägliche, ernsthafte Nutzung zumeist nicht geeignet bzw. werden sie aus diesem Sektor von mobilitätseingeschränkten Personen nicht in Erwägung gezogen und darin auch nicht aktiv gesucht.

So bleibt es bei Nischen- und Freizeitprodukten, da die Nachfrage, die aus einem ernsthaften Bedarf hervorgehen würde und zur Weiterentwicklung führen könnte, ausbleibt. Generell besteht auch das Problem, dass ein möglicher Nutzer die technischen Möglichkeiten gar nicht überblickt und in Gegenwart seines eigenen Mobilitätsproblems früh resigniert. Hat der Nutzer oder sein beratendes Umfeld eine geeignete Mobilitätshilfe ausgemacht, ist diese meist ein Kompromiss, der vorrangig seinen Ursprung in der Verfügbarkeit (Bezahlbarkeit) hat. Die Kernfunktion, nämlich die Mobilität für die Person, ist dann zwar in der Regel hergestellt, jedoch hat das wenig mit der natürlichen Mobilität zu tun und ist daher eine nur unbefriedigende Lösung. Unbefriedigend weil die individuelle Mobilität dadurch Schaden nimmt. Man ist an spezielle Routen oder Zonen gebunden oder auf Helfer angewiesen, kurz: Man bewegt sich nicht mehr selbstbestimmt. Technische Unzulänglichkeiten bestehen insbesondere bei der Hinderniskompatibilität, der technischen Assistenz und Sicherheit sowie der Personalisierbarkeit (individuelle Anforderungen). Studien der Forschergruppe SilverMobility belegen, dass sowohl nutzer- als auch marktseitig eine gewisse Paralysierung vorherrscht, die verhindert dass der potentielle Nutzer zum Produkt findet. Zusammenfassend gesagt ist der Markt wenig aufbereitet und der Nutzer damit überfordert.

Lösungsansätze

Allem voran gilt der Grundsatz: „Natürliche Mobilität ist durch nichts zu ersetzen!“ Im Einklang damit steht das Prinzip des Forderns natürlicher Mobilität, um sie zu erhalten oder im besten Fall sogar zu fördern. Viele der heutigen Mobilitätshilfen wecken Assoziationen wie „alt“ und „krank“. Die Verordnung einer Mobilitätshilfe bedeutet daher nicht selten auch psychisch einen tiefen Einschnitt, was der Erhaltung der noch vorhandenen, natürlichen Mobilität nicht zuträglich ist. Gelingt es, dieses Image aufzuweichen und mit anderen, positiven Assoziationen wie z. B. „schick“ zu belegen, ist das der Schritt zu einer ganz anders motivierten Nutzung von Mobilitätshilfen. Nämlich nicht erst als unbeliebte Hilfe, wenn man sie wirklich braucht, sondern schon sehr viel früher, begleitet von einem entspannten Verhältnis des Umgangs damit.

Ideal ist die Altersgruppe ab 50 Jahren, in der das Bewusstsein wächst, dass natürliche Mobilität nicht mehr selbstverständlich ist, eine gewisse Bereitschaft, Dinge anders zu machen Einzug hält und der nötige finanzielle Rückhalt gegeben ist. Während heute bei plötzlich eintretendem Mobilitätsdefizit mit einem traumatischen Erlebnis zu rechnen ist, könnte dies in der Welt von morgen lediglich die intensivere Nutzung eines ohnehin vertrauten nützlichen Helfers aus dem bisherigen Freizeitbereich bedeuten. Idealerweise kann die Hilfe dabei mit den Anforderungen „wachsen“.

Ein weiterer Aspekt ist die Erzeugung eines „weichen“ Überganges. Wird heute mangels passender, individueller Hilfe in vielen Fällen zu stark entlastet, wenn ein plötzlicher oder allmählicher Verlust an natürlicher Mobilität eintritt, sollte der Unterstützungsgrad zukünftig besser angepasst werden, um das verbliebene Mobilitätslevel zu erhalten bzw. keinen weiteren, u. U. dramatischen Mobilitätsverfall zu riskieren. Der technische Ersatz von natürlicher Mobilität ist aktuell unzureichend, denn die derzeit für die Allgemeinheit verfügbare und bezahlbare Palette an Mobilitätshilfen erfüllt nicht die Anforderungen, um die entsprechende Akzeptanz zu erhalten, insbesondere in Bezug auf die individuellen Anforderungen. Konsequenz muss also sein, Entwicklungsarbeit so zu investieren, dass es die Kosten nicht ins Unermessliche treibt, wenn abweichend von der Serie persönliche Ausstattungs- und Leistungsmerkmale Beachtung finden.

In der Gesamtschau gilt es dabei zu erreichen, dass sich eine Mobilitätshilfe niemals wie Ballast anfühlt, womit ein wichtiges Kriterium hinsichtlich der Akzeptanz erfüllt wäre. Abb. 2 fasst typische Entwicklungen des Grades der Mobilität, ausgehend von einem Anfangszustand ab etwa 50 Jahren, der 100 % markiert, zusammen. Die Forschergruppe SilverMobility befasst sich dabei mit Konzepten, die das Erreichen der gestrichelten Verläufe ermöglichen sollen. Die durchgängigen Linien verdeutlichen den natürlichen Verlauf bzw. in der unteren Fassung den heutigen, idealen Verlauf bei Nutzung einer optimal abgestimmten Mobilitätshilfe. Wird zu stark entlastet, dargestellt durch den Strich-Punkt-Verlauf, besteht die Gefahr einer dramatischen Einbuße von natürlicher Mobilität (grauer Bereich).

Konzept zur individuellen Mobilität

Der Aktionsradius des Nahfeldes beträgt symbolisch 1 km. Der Bereich unter 1 m wird dabei, sofern Unterstützung notwendig ist, der Orthetik zugeordnet, der Bereich ab 1 m wird als Fortbewegung der Person gewertet. Über die symbolische Grenze von 1 km hinaus treten andere Mobilitätsmittel wie z. B. der PKW in den Vordergrund. Hinsichtlich des Unterstützungsgrades, ausgehend von der Tatsache, dass überhaupt ein Mobilitätsdefizit existiert, reicht der Spielraum exemplarisch von gering bis hoch oder anders gesagt von „bewegen“ bis „bewegt werden“. Unter Berücksichtigung dieser und weiterer individueller Parameter lassen sich Kennungen für Mobilitätshilfen finden, die sich am Nutzerwunsch/-bedarf orientieren und im besten Fall die unter „Lösungsansätze“ vorgestellten Ansätze einbeziehen.

Die Kombination aus unterstützter bzw. ersetzter Schlüsselmobilität und mindestens einer weiteren Mobilitätsform ergibt dann jeweils eine Mobilitätskette, deren Güte sich darüber ausdrückt wie die einzelnen Mobilitätsformen auf den Nutzer und die Strecke zugeschnitten sind. Mittels derartiger Kennungen und dem Zugriff auf eine Datenbank, könnte der Nutzer in Zukunft besser beraten sein und der Unübersichtlichkeit des Marktes etwas entgegengesetzt werden, was im Endeffekt den Lückenschluss zwischen den einzelnen Mobilitätsformen bewirken und damit den Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben im Alter bedeuten kann.

In Kürze

Nahfeldmobilität eines älteren Menschen ist nicht selbstverständlich, jedoch notwendig für ein selbstbestimmtes Leben und damit gute Lebensqualität. Besondere Aufmerksamkeit wird hierbei der natürlichen Mobilität zugeschrieben, die es solange wie möglich zu erhalten gilt. Wird Ersatz notwendig, sollte dieser besser auf den Nutzer abgestimmt sein.

Quellen:

    1. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (2008): Ergebnisbericht Mobilität in Deutschland 2008 (MiD 2008).
    2. Aagaard P, Magnusson PS, Larsson B, Kjaer M, Krustrup P. Mechanical muscle function, morphology, and fiber type in lifelong trained elderly. Med Sci Sports Exerc. 2007;39(11):1989-96.
    3. Candow DG, Chilibeck PD. Differences in size, strength, and power of upper and lower body muscle groups in young and older men. J Gerontol A Biol Sci Med Sci. 2005;60(2):148-56.
    4. Evans WJ. What is sarcopenia? J Gerontol A Biol Sci Med Sci. 1995;50 Spec No:5-8.
    5. Lauretani F, Russo CR, Bandinelli S et al. Age-associated changes in skeletal muscles and their effect on mobility: an operational diagnosis of sarcopenia. J Appl Physiol. 2003;95(5):1851-60.
    6. Lexell J, Taylor CC, Sjostrom M. What is the cause of the ageing atrophy? Total number, size and proportion of different fiber types studied in whole vastus lateralis muscle from 15- to 83-year-old men. J Neurol Sci. 1988;84(2-3):275-94.
    7. Rosenberg IH. Sarcopenia: origins and clinical relevance. J Nutr. 1997;127(5 Suppl):990S-1S.
    8. Statistische Ämter des Bundes und der Länder(2011): Demografischer Wandel in Deutschland, Heft 1/2011.
    9. Limbourg, M., Matern, S. (2009): Erleben, Verhalten und Sicherheit älterer Menschen im Straßenverkehr, Köln (Eugen-Otto-Butz-Stiftung Band 4).

 

Dieser Artikel von Sebastian Köhring, Stefan Lutherdt, Anne Micha­elis, Felix Becker, Michael Brandl, Bernd Faenger, Silvio Holder, Max Fremerey, Meike Lawin, Norbert Fränzel, Frank Weichert, Hartmut Witte ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2014, erschienen. 

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