Eine Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik (difu) verdeutlicht, dass das Gegenteil der oft befürchteten Auswirkungen auftritt: Wer Straßen zu verkehrsberuhigten Zonen umbaut, erntet Lebensqualität und bessere Mobilität für mehr Menschen auch im Umfeld.
Die wohl umfangreichste Meta-Studie zu dem Thema vergleicht über 60 Fallstudien aus elf Ländern und bestätigt: Verkehr verhält sich nicht wie ein natürlicher Strom, der sich den Weg des geringsten Widerstands sucht, sobald ein anderer Weg erschwert wird. Vielmehr ist Verkehr die Folge menschlicher Entscheidungen, die aufgrund bestimmter Bedingungen getroffen werden – und die lassen sich ändern.
Wörtlich ins Deutsche übersetzt wäre es eine Verkehrsverdunstung. Im deutschsprachigen Raum wird das Phänomen teilweise auch als Verkehrsverpuffung bezeichnet. Beides schiefe Bilder, die Physiker:innen die Haare zu Berge stehen lassen.
Der Vorgang beschreibt das Verringern des Kfz-Aufkommens in benachbarten Straßen bei Einführen verkehrsberuhigter Bereiche bzw. beim Einrichten von Baustellen im Straßennetz. Dieses oft anstelle einer Kfz-Verkehrsverlagerung in benachbarte Straßen beobachtete Phänomen kann durch
– das Wählen näherliegender Ziele,
– das Vermeiden von Autofahrten,
– das Verteilen auf zahlreiche alternative Routen sowie
– das Umsteigen auf andere Verkehrsmittel
der Autofahrer:innen erklärt werden. In der Folge können selbstverstärkende Effekte auftreten, sodass sich das Einführen lokaler Verkehrsberuhigung bzw. Baustellen auch auf Flächennutzung, Gesundheit, Klima und Verkehrsfluss benachbarter Gebiete positiv auswirken kann.
Als aktuellstes Beispiel in Deutschland zeigte der plötzlich nötige Abriss der zentralen Autobahnbrücke über die Ringbahn in Berlin im Frühjahr, dass es selbst bei dem unglücklichen Management des Senats eine „Verdunstung“ des Kfz-Verkehrs geben kann. Durch den Abriss der Brücke war die Ringbahn der S-Bahn für vier Wochen unterbrochen – und damit die Chance für Autofahrer:innen verhindert, auf ein alternatives Verkehrsmittel umzusteigen. Aber nach wenigen Tagen wurde dennoch offensichtlich, dass der herbeigeredete „Mega-Stau“ nicht (mehr) stattfand. Erstaunliche Logik des Senats und der Autobahn GmbH des Bundes aus der von ihnen nicht wahrgenommenen Erfahrung: Die Brückenkombination soll im gleichen Umfang wieder aufgebaut werden. Zusätzlich wird es eine weitere Anschlussstelle an die Autobahn geben.
Beispiele:
Aber Politik und Planung können es auch besser als Berlin, wie Beispiele aus aller Welt zeigen:
Linienhafte Verkehrsberuhigung
- Friedrichstraße, Berlin
Um die Einkaufsstraße zu beleben, wurde aus einem Abschnitt eine Fußgängerstraße mit breitem Radweg auf der Fahrbahn. Hoch umstritten und weg geklagt, aber: Während der Fußverkehr in der Flaniermeile um bis zu 50% zunahm, verlagerte sich der Kfz-Verkehr teilweise auf umliegende Straßen. Das führte dort zu keiner Überlastung. Nur eine parallel verlaufende Straße verzeichnete eine deutliche Mehrbelastung. - Fußgängerzone Sendlinger Straße, München
Die Erhebungen vor und während des Versuchs zeigten, dass es werktags zu kaum merklichen Veränderungen im Kfz-Verkehrsaufkommen kam. An Wochenenden nahm die verkehrliche Belastung zu Spitzenzeiten leicht zu, überstieg aber nicht die Leistungsfähigkeit des umliegenden Straßennetzes. - Erlebnisraum Martinistraße, Bremen
Hier wurden 2021/2022 drei Modelle getestet. Die Evaluation zeigt, dass sich insbesondere in der dritten Phase der Verkehr großflächig verändert hat. So hat der Kfz-Verkehr in der Altstadt und der Umgebung an mehr als der Hälfte aller 30 Zählstellen um mindestens 15% abgenommen.
Flächenhafte Verkehrsberuhigung
- Ottensen macht Platz, Hamburg
In einer Nebenstraße gab es verkraftbar mehr Kfz. Dagegen wurden in der zum Projektgebiet führenden Straßen rund 80% weniger Kfz-Verkehr erfasst. Daraus ergibt sich ein gesamter Rückgang des Verkehrsaufkommens im Projektgebiet von rund 15-25%. - Superblocks, Barcelona
Den Effekt der Maßnahmen auf das gesamte Stadtgebiet bezogen, belegt der Urban Mobility Plan 2013-2018. Die flächendeckenden Umsetzung von Superblocks auf das gesamte Stadtgebiet verursachte 19% weniger Fahrten von privaten Fahrzeugen. - Gent, Belgien
Einen ausführlichen Bericht finden Sie exklusiv in unserer Ausgabe 3/2025 in unserer „Best-Practice-Verkehrswende-Reihe“ ab Seite 38.
Bedenkenswertes
- Ein Straßennetz ist nur so gut wie seine schwächste Stelle, also der jeweilige Engpass. Werden einzelne Straßenabschnitte erweitert, also mehr Fahrspuren angeboten, entstehen an beiden Enden des verbreiterten Abschnittes automatisch neue Engpässe im Netz. Diese Engpässe zeigen sich als Staus manchmal an den erstaunlichsten Stellen im Netz. Oft sind es aber bereits die nächsten Knoten an den Enden des erweiterten Straßenabschnitts, die für Staus sorgen.
- Der Kfz-Verkehrsfluss ist nicht abhängig von der Leistungsfähigkeit des gesamten Straßennetzes, sondern vor allem von neuralgischen Punkten wie einzelnen Kreuzungen, an denen die Verkehrsmenge die Kapazität regelmäßig übersteigt. Daher verschlechtert eine Reduktion des Netzes nicht unbedingt den Kfz-Verkehrsfluss, sondern kann ihn sogar verbessern, während gleichzeitig Flächen für andere Nutzung frei werden.
- Der Neubau einer Straße kann sogar für (fast) alle die erwartete Verbesserung in eine Verschlechterung umwandeln: Das Paradoxon des Verkehrs wurde 1968 von dem deutschen Mathematiker Dietrich Braess veröffentlicht. Das Braess-Paradoxon veranschaulicht, dass eine zusätzliche Handlungsoption unter der Annahme rationaler Entscheidungen Einzelner zu einer Verschlechterung der Situation für alle führen kann. Und zwar dann, wenn alle bzw. zu viele Autofahrer:innen die neue Straßenverbindung nutzen wollen. Dann können die Fahrzeiten länger werden als die auf den bislang genutzten alten Verbindungen. Der Effekt konnte in der Realität nachgewiesen werden. Entsprechende Auswirkungen können auch Empfehlungen von Routing-Diensten haben, wenn viele Autofahrer:innen diesen folgen.
- Der Bau von Ortsumfahrungen bringt nur selten die erhoffte Entlastung der Ortsdurchfahrten, denn meist überwiegt hier der Kfz-Verkehr, der sein Ziel bzw. seine Quelle in den jeweiligen Kommunen hat. Eine Studie im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums zu realisierten Ortsumfahrungen aus dem letzten Bundesverkehrswegeplan hat ergeben, dass 90 Prozent dieser Vorhaben nicht zur erhofften Entlastung der Ortsdurchfahrt führten.
Autor:
Stefan Lieb, Redakteur
Dieser Artikel erschien in der Mobilogisch Ausgabe 3/2025.