Es sind aufregende Zeiten. Wir befinden uns mitten in einer Situation, in der Herausforderungen unterschiedlichster Art für die Gesellschaft wachsen (Klimawandel, Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, Rechtsextremismus etc.) und gleichzeitig eine zunehmende Spaltung diese Gesellschaft zu lähmen scheint.
Polarisierung statt offener Diskurs, Selbstblockaden in der Politik, Pflege des Dissenses statt Suche nach Konsens – und mitten drin die Verkehrswende (ich verwende dieses Wort hier durchgehend als übergreifenden Begriff, verstanden als das Zusammenwirken von Mobilitäts- und Antriebswende). Auch bei diesem Thema scheinen Widerstände zu wachsen, werden teilweise eigentlich selbstverständlich erscheinende Maßnahmen hinterfragt, wachsen in Teilen der Politik Zurückhaltung und Mutlosigkeit, bis hin zur Verweigerungshaltung. Woran liegt das?
Der Rollback bei der Verkehrswende – vielfältige Ursachen
Wenn man ehrlich ist, dann können wir diese Entwicklung schon seit längerem beobachten, zumindest bezüglich wichtiger Teilaspekte, sie hat sich aber zuletzt augenscheinlich immer weiter verstärkt. Ein paar Momentaufnahmen aus der letzten Zeit:
- Die Verkehrswende-Bubble hat eine Zeitlang die zuversichtliche Botschaft verbreitet, mit der Verkehrswende könne man Wahlen gewinnen, die Mehrheit der Gesellschaft stehe dahinter. Momentan lernen wir, dass man damit leider auch Wahlen verlieren kann, wie u. a. die letzten Wahlen in Berlin und Bremen gezeigt haben (übrigens gilt das teilweise auch für das europäische Ausland).
- Das vorläufige Scheitern der noch lange nicht ausreichenden Reform des Straßenverkehrsrechts im Bundesrat im November 2023 zeigt, dass neben einer zeitgemäßen Verkehrspolitik auch der Stellenwert der für die Umsetzung der Verkehrswende besonders wichtigen kommunalen Interessen und damit auch der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen in der Bundes- und Landespolitik viel zu gering ist. Fachliches wird im Zweifelsfall politischer Taktiererei untergeordnet.
- Die Aufkündigung der Zusammenarbeit zwischen SPD und Grünen in Hannover durch die SPD begründet durch die Verkehrspolitik des grünen OB Belit Onay macht beispielhaft deutlich, dass die Verkehrswende auch auf kommunaler Ebene zum parteitaktischen Spielball zu werden droht (fachlich ist die Begründung der Hannoveraner SPD kaum nachvollziehbar, mit der sie im Übrigen ihren eigenen für Mobilität und Verkehr zuständigen Stadtbaurat im Regen stehen lässt).
- Selbst kleine temporäre Maßnahmen in großen Städten in vergleichsweise „verkehrswendeaffinen“ Umfeldern stoßen mittlerweile auf teilweise erbitterten Widerstand, sowohl bei manchen Verbänden als auch direkt betroffenen Menschen. Mag man die vieldiskutierte Friedrichstraße in Berlin als Sonderfall mit sehr ortsspezifischen Ursachen betrachten, so gilt dies mittlerweile auch für eigentlich gut vorbereitete und kommunizierte Projekte wie die Columbusstraße in München.
Diese beispielhaften Schlaglichter machen deutlich: Es gibt in Deutschland trotz aller verbaler Bekundungen keine Mehrheiten (weder politisch noch gesellschaftlich) für eine Verkehrswende, die diesen Namen auch verdient. Neben dem schon erwähnten unzureichenden politischen Stellenwert (und der damit verbundenen Inkonsistenz im Handeln der unterschiedlichen föderalen Ebenen, die durchaus auch von den Bürger*innen wahrgenommen wird) und den hinderlichen übergeordneten Rahmenbedingungen beim Rechtsrahmen und bei der Finanzierung gibt es bei den Ursachen weitere Aspekte, die teilweise auch die „Verkehrswende-Bubble“ adressieren:
- Menschen mögen in der Regel Veränderungen nicht besonders, vor allem wenn sie das individuelle Verhalten adressieren. Je weniger ein durch den Wandel erreichbarer persönlicher Mehrwert erkennbar ist, desto stärker ist die Abwehrhaltung. Und wenn dann noch durch die Befürworter einer Maßnahme bestimmte Lebenslagen ignoriert werden, muss man sich nicht wundern, wenn manche Bevölkerungsgruppen sich komplett verweigern.
- Oft sind Forderungen nach einer Verkehrswende (ob auf genereller Ebene oder auf bestimmte Maßnahmen bezogen) mit einem hohen moralischen Impetus bis hin zum Weltrettungsgestus verknüpft, gerade in Richtung der Autofahrenden. Dadurch wird eine Verweigerungshaltung eher gestärkt, entsprechende Maßnahmen werden als „von oben aufgezwungen“ empfunden und abgelehnt. Die daraus teilweise resultierende Polarisierung der Debatte wird durch die Medien häufig noch verstärkt.
- Die Diskussion um die richtigen Strategien und Maßnahmen hat teilweise zu einer Rückkehr zum sektoralen, verkehrsträgerbezogenen Denken und Argumentieren geführt. Besonders ausgeprägt ist dies beim Radverkehr. So legitim jede einzelne Forderung sein mag, sie kann integrierte Planung und Abwägungsprozesse nicht ersetzen. Das gilt für die „großen Linien“, aber vor allem auch für die Gestaltung des öffentlichen Raums.
Man kommt nicht darum herum: Wandel braucht Mehrheiten, politische wie gesellschaftliche, beides ist momentan nicht vorhanden. Und es braucht trotz des hohen Handlungsdrucks Zeit, diese zu erreichen. Der beliebte Spruch „einfach mal machen“ ist da nur bedingt hilfreich, wenn er die notwendigen Prozesse ignoriert, um die erforderlichen Mehrheiten zu erreichen.
Nicht den Mut verlieren: Die Verkehrswende hat Zukunft!
Dass eine Verkehrswende wichtiger ist denn je, bleibt davon unbenommen, die Gründe dafür sind bekannt. Und nicht alles geht in die verkehrte Richtung, ein paar Beispiele:
- Wandel findet statt: In vielen, vor allem großen Städten geht trotz steigender Motorisierung das Kfz-Verkehrsaufkommen kontinuierlich zurück, insbesondere in den Innenstädten.
- Die Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ (lebenswerte-staedte.de) hat mit mittlerweile über 1.000 Mitgliedskommunen (darunter ca. 85% aller Großstädte und fast die Hälfte aller Mittelstädte in Deutschland) gezeigt, dass der Diskurs zur Verkehrswende auf kommunaler Ebene vorangeht – und zwar parteiübergreifend: Es ist möglich, das Thema aus den parteipolitischen Schützengräben herauszuholen.
- Auch wenn es sich nicht in ausreichendem Maße im Agieren der Politik niederschlägt: Das zivilgesellschaftliche Engagement für den Wandel gewinnt an Breite und ist bei weitem nicht mehr nur eine großstädtische Angelegenheit.
Was heißt das für die Zukunft der Verkehrswende in Deutschland? Wir brauchen einen langen Atem und ein Agieren sowohl „top down“ wie „bottom up“, von der Politik in Bund, Ländern und Kommunen wie von der Zivilgesellschaft. Eine ganz zentrale Grundvoraussetzung: Die unterschiedlichen politischen Ebenen müssen eine konsistente Botschaft aussenden: Wenn Bundeskanzler und Verkehrsminister kund tun, eigentlich müsse sich nicht wirklich etwas ändern, mit Technologie und Digitalisierung kriege man alles in den Griff – dann muss man sich nicht wundern, wenn ambitionierte Maßnahmen auf kommunaler Ebene auf Unverständnis und Widerstand treffen.
Um die Menschen zu erreichen, die diesen Wandel letztendlich tragen sollen, gibt es eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Ansätze:
- Die Verkehrswende braucht eine positive Grundbotschaft: Die Weltrettung (mit Fokus auf den Klimaschutz) verbunden mit Verlustängsten und Verzichtsforderungen ist denkbar ungeeignet, zögernde Menschen zu überzeugen. Es muss um das „gute Leben“ gehen, um Lebensqualität mit erkennbarem Mehrwert für den einzelnen Menschen in seiner jeweiligen Lebenslage. Dazu gehören entsprechende greifbare positive Zukunftsbilder, nicht als ferne Utopie sondern aus dem Jetzt hergeleitet. Und es gibt ja eigentlich durchaus schon eine ganze Menge positiver Geschichten zu erzählen – Optimismus hilft immer!
- Dabei unterstützt das Motto „Ausprobieren und Lernen“, mit ergebnisoffenen temporären Maßnahmen, gut kommuniziert und partizipativ aufgesetzt, nicht belehrend, auch mit dem Risiko des Scheiterns (das hat auch eine kulturelle Dimension).
- Auch wenn der Wandel strategisch gut vorbereitet wird, er kommt nicht von allein. Um Mehrheiten muss gekämpft werden, dabei sollten wir im Diskurs alle Lebenslagen ernst nehmen und Polarisierung vermeiden (was eine klare Positionierung ausdrücklich nicht ausschließt). Polarisierung stärkt letztendlich die Kräfte der Beharrung und Stagnation. Zielorientierte Ambition muss mit notwendigem Pragmatismus verbunden werden: besser ein guter Kompromiss als die nie realisierte Idealvorstellung.
- Die Verkehrswende lässt sich nur dann breit und nachhaltig in allen betroffenen Handlungsfeldern verankern, wenn wir integriert denken und handeln (bei Strategien, Maßnahmen, Prozessen und Kommunikation).
- Die Kommunen brauchen mehr politischen Einfluss auf Bundes- und Länderebene sowie deutlich mehr Handlungsspielräume: Sie sind der Ort des Wandels und des Diskurses, dort wird die Verkehrswende sichtbar, mit dem öffentlicher Raum als Schauplatz.
- Dazu gehören ein entsprechend angepasster Rechtsrahmen (nicht nur beim Straßenverkehrsrecht, es geht z. B. auch um Bau- und Planungsrecht oder um Raumordnung) und eine Neuordnung der Finanzierungs- und Fördersystematik: Von der Erschließung neuer, auch nutzerbasierter Finanzierungsquellen bis zu einer deutlich vereinfachten Fördersystematik.
Diese Liste ist durchaus noch nicht komplett. Sie soll die Vielfalt der Handlungsebenen deutlich machen, die mit einer nachhaltigen Verkehrswende verknüpft sind. Und, auch wenn das vielleicht ein wenig paradox klingt, sie soll auch ermutigen. Nichts davon ist Hexenwerk. Für alles gibt es bereits etwas, worauf man aufbauen kann. Dranbleiben und einen langen Atem haben!
Dieser Artikel von Burkhard Horn ist in Mobilogisch!, Heft 1/2024, erschienen.