Tausende Bordsteine sind nicht abgesenkt, Gehwege sind über Kilometer in einem schlechten Zustand oder nicht breit genug. Unzählige Hauptverkehrsstraßen behindern eine sichere Querung. An vielen Orten lädt die Gestaltung der Straße nicht zum Aufenthalt und Gehen ein. Um die Verkehrssicherheit und Barrierefreiheit voranzutreiben, ist ebenfalls überall noch Luft nach oben… Die Problem­lagen sind sicherlich allen Kommunen bekannt. Die Hände über den Kopf zusammenschlagen ist aber keine Option.

Wie können also die vielen Probleme und Hindernisse für den Fußverkehr so bearbeitet werden, dass sich strategische Prioritätenlisten ergeben und durch konkrete Maßnahmenprogramme händelbar und bearbeitbar werden? Die Stadt Leipzig hat hierzu ein methodisches Vorgehen entwickelt – den Bedeutungsplan für den Fußverkehr.

Ausgangslage

In der strategischen und konzeptionellen Verkehrsplanung wird in der Nachfrageanalyse oder der Bedarfsplanung maßgeblich auf die funktionale Netzgestaltung der FGSV Richtlinie zur integrierten Netzgestaltung (RIN) zurückgegriffen, um zu einer konkreten und differenzierten Maßnahmenplanung zu gelangen. Dies macht natürlich Sinn und niemand würde auf die Idee kommen, den MIV, den ÖPNV oder auch den Radverkehr ohne eine dafür konzipierte Netzplanung in der Stadt zu bearbeiten.

Ein klassifiziertes Netz hilft uns, bestimmte Dinge zu priorisieren, zu hierarchisieren oder auch bestimmte Ausbaustandards zu definieren. Jedoch existiert eine solche stringente Herangehensweise für den Fußverkehr in Deutschland nicht. Die RIN ist hierbei keine wirkliche Hilfe und legt recht lapidar fest, dass nur zwei Kategoriengruppen zu unterscheiden sind: Fußverkehr außerhalb bebauter Gebiete (Kategorie AF) und Fußgängerverkehr innerhalb bebauter Gebiete (Kategorie IF). Nach Verbindungsfunktionsstufen wird explizit nicht unterschieden, da unterstellt wird, dass es keine darstellbare räumlich-differenzierte Verbindungsbedeutung für den Fußverkehr gibt.
Diese Aussage ist zum Teil nachvollziehbar, denn mit dem bestehenden Ansatz der RIN wird es methodisch nicht gelingen, maßgebende Verbindungsfunktionsstufen für den Fußverkehr zu bestimmen oder abzuleiten. Hier müssen andere Ansätze her, wie etwa über Indikatoren die Bedeutung von Netzabschnitten oder Räumen zu bestimmen. Dafür muss die Grundannahme getroffen werden, dass spezifische straßenräumliche Randnutzungen und Flächennutzungen ein spezifisches Fußverkehrsaufkommen mit definierten Reichweiten generieren und zu einem Bedeutungswert zusammengefasst werden können. Diese Ableitungen können am Ende in einen Bedeutungsplan überführt werden.

Einem solchen Ansatz folgt derzeit die Stadt Leipzig. Mit diesem Bedeutungsplan sollen für gesamtstädtische Entwicklungsschwerpunkte identifiziert und ein gesamtstädtisches Planinstrument entsprechend der unterschiedlichen Anforderungen und Bedeutungen aufgestellt werden.

Unter Bezug auf den Bedeutungsplan soll es nunmehr möglich sein, bei allen aufkommenden Maßnahmen eine Priorisierung und Hierarchisierung aus Sicht des Fußverkehrs vorzunehmen. Bei der Vielzahl von notwendigen Maßnahmen für den Fußverkehr im gesamten Stadtgebiet ist eine solche Systematik zwingend erforderlich, um eine systematische und strategische Eintaktung unter den Zwangspunkten der finanziellen und personellen Ressourcen aufstellen zu können.

Der verwendete raumdifferenzierte Ansatz soll in seiner Methodik hier kurz umrissen werden:

Methodik

Durch den Bedeutungsplan wird erstmalig für jeden Straßenraum eine Aussage über die (potentielle) Bedeutung des Raums für den Fußverkehr möglich, die sich aus fußverkehrsrelevanten Infrastrukturen im Umfeld ergeben. Dafür wurde mittels Geographischem Informationssystem (GIS) das Leipziger Wegenetz gesamt­städtisch einer entsprechenden Geodatenanalyse unterzogen und kartographisch aufbereitet.
Fußverkehr hat im Unterschied zu anderen Verkehrsarten insbesondere nahräumliche Zusammenhänge. So sind es weniger Quell- und Zielbeziehungen entlang von Routen und Achsen über große Distanzen, die für das Fußverkehrsaufkommen entscheidend sind, als vielmehr das direkte Umfeld mit seinen Nutzungsmöglichkeiten und räumlichen Gegebenheiten. Eine Grundannahme der Betrachtung ist dementsprechend, dass es in der Stadt verschiedene fußverkehrsrelevante und --erzeugende Orte gibt, wie Randnutzungen und Infrastrukturen – so genannte Points of Interest (POIs) – aber auch bedeutsame Flächenkulissen (z. B. Grünräume und Wohngebiete).

Übergeordnet soll im Folgenden dabei von Bedeutungsträgern die Rede sein. Die POIs sind dabei nicht nur an ihrem Standort für den Fußverkehr wirksam, sondern wirken in unterschiedlichem Maße in ihr Umfeld hinein, d. h. sie haben einen Einflussbereich. Hier wurde insbesondere auf die Empfehlungen für Fußverkehrsanlagen (EFA, Tabelle 4, Seite 17) zurückgegriffen. Dabei wurde auch angenommen, dass die Bedeutungsträger eine unterschiedliche Rolle für den Fußverkehr spielen und daher auch unterschiedlich stark ins Gewicht fallen. Entsprechend wurden Gewichtungen von Bedeutungen zwischen unterschiedlichen Bedeutungsträgern vorgenommen. So hat eine Haltestelle eine größere Gewichtung gegenüber einem Café oder einem Laden. Letztlich kommt es im Straßenraum zu vielfältigen Überlagerungen von Einflussbereichen unterschiedlicher POIs und weiteren Bedeutungsträgern, die in ihrer Summe zu einer bestimmten Bedeutungsausprägung an einem Ort führt. Die räumlich differierte Addition dieser unterschiedlichen Bedeutungsträger führt zu einem Bedeutungsplan, welcher ortskonkrete Potenzialräume für den Fußverkehr aufzeigt.

Datenquellen und –typen

Kommunen erheben und sammeln oftmals einen großen Pool an Geodaten und halten diesen vor. Jedoch wird dieser Datenschatz viel zu selten genutzt und das Potenzial in der Weiterverarbeitung ausgeschöpft. Die Geodaten der meisten Bedeutungsträger für die Stadt Leipzig lagen deshalb größtenteils bereits zur Verfügung. Falls keine flächendeckenden gesamtstädtischen Datensätze vorhanden waren, sind diese durch Daten von dem freizugänglichen Kartendienst OpenStreetMap (OSM) ergänzt worden. Teilweise sind auch innerhalb bestimmter Klassen und Einrichtungsarten Datensätze aus beiden Quellen zusammengeführt worden. Dabei wurde darauf geachtet, dass es nicht zu Dopplungen kommt bzw. diese bereinigt wurden. Einige wenige Datensätze sind mangels Verfügbarkeit händisch recherchiert und nachgetragen worden. Bei den meisten Bedeutungsträgern handelt es sich um POIs, die entsprechend als Punkte vorliegen. Darüber hinaus sind Rasterdaten (Einwohnerdichte) und Flächendaten-Polygone (Grün-, Blau- und Platzflächen, historische Ortslagen) eingeflossen. Ebenso wurden räumliche Bewegungsdaten hinzugezogen, die den Freizeitverehr (Spazierengehen, Joggen) abbilden können.

Auswahl und Struktur der Daten

Bei der Auswahl der Bedeutungsträger wurden zunächst jene Einrichtungen herangezogen, für die in den Empfehlungen für Fußgängerverkehrsanlagen (EFA) [FGSV 2002, Tabelle 4] ein Einflussbereich mit erhöhten Anforderungen an Gehwege definiert wurden. Dazu zählen laut der Richtlinie Wohnheime, Schulen, Dienstleistungen, Versammlungsstätten, Haltestellen des ÖPNV sowie Pflegeheime und Krankenhäuser.

Erweitert wurden diese im Laufe der Bearbeitung beispielsweise durch Orte der grün-blauen Infrastruktur, wie Parks, da diese ebenfalls von Bedeutung für den Fußverkehr sind. Auch innerhalb der Gruppen und Klassen sind nochmals Justierungen und Spezifizierungen in der Auswahl und Strukturierung der Daten, Entsprechend der Verfügbarkeit und Sinnhaftigkeit vorgenommen worden. So sind beispielsweise in der Gruppe Wohnen auch ergänzend die städtischen Rasterdaten zu Einwohnerdichten mit eingeflossen. Generell wurden Datensätze auf ihre Plausibilität und Vollständigkeit geprüft und wenn notwendig überarbeitet.

Letztlich stützt sich die Analyse auf einen umfangreichen Datensatz an Einzelelemente von Bedeutungsträgern wie POIs (6.629 Datensätze), Einwohnerraster (46.000 Datensätze), Grün- oder Gewässerflächen (3.085 Datensätze) und Bewegungsdaten.

Einflussbereiche

Neben der Auswahl an Einrichtungen wurden der EFA auch die definierten Einzugsbereiche übernommen. Lediglich die Einflussbereiche der ÖPNV-Haltestellen wurden mit 300m am Leipziger Nahverkehrsentwicklungsplan orientiert. Auch der Einflussbereich der Krankenhäuser wurde unter Abwägung auf 500 m hochgesetzt, aufgrund der Wichtigkeit medizinischer Versorgung. Die als Flächen/Polygone vorhandenen Freiraumstrukturtypen Wald/Gehölz, Friedhof, Kleingartenanlage, Stadtplatz und die Rasterfläche der Einwohnerdichte werden in ihrer jeweiligen flächenhaften Ausprägung wirksam und haben keinen darüber hinaus gehenden Einflussbereich. Gewässern und Parks/ gestalteten Grünflächen wurden zusätzlich noch mit einem 100 m Puffer versehen, um Ihre Aus­strahlungseffekte ins umliegende Wegenetz zu berücksichtigen.

<p>Um einen differenzierten Ausgleich zu schaffen zwischen den innerstädtischen Bereichen und den randstädtischen Lagen wurden die Zentren der historischen Ortslagen im Leipziger Stadtgebiet erhoben und in ihrer Bedeutung gesteigert. Die Bewegungsdaten greifen vor allem innerhalb der Parkanlagen und differenzieren deren Wege in ihrer Nutzungshäufigkeit. Dadurch wurde ausgeglichen, dass innerhalb der Parks keine Ziele in dem Sinne sind, die mit ihren Einzugsgebieten Fußverkehr generieren. Durch die Bewegungsdaten konnte der ziellose Freizeitverkehr in den Bedeutungsplan mit einfließen.

Gewichtung der Bedeutung

Für die unterschiedliche Gewichtung der Bedeutungsträger konnten wir uns im Gegensatz zu den Einflussbereichen nicht auf eine Richtlinie stützen, sondern mussten diese selbst definieren. Für die Bestimmung des Wertes berücksichtigten wir

  • sowohl quantitative (wie viel Fußverkehr erzeugt ein POI bzw. wie hoch ist eine Einrichtung frequentiert)
  • als auch qualitative Kriterien (gibt es besonders sensible Nutzergruppen wie Kinder, alte und/oder körperlich eingeschränkte Personen).

In einem gewissen Maße sind auch planerische Zielstellungen oder Ansprüche bereits in die Gewichtung eingeflossen, beispielsweise durch eine hohe Wertung von ÖPNV-Haltepunkten. Für die Zuordnung der Bedeutung der Einwohnerschwerpunkte wurde mit einem Raster der gemeldeten Einwohner gearbeitet.

Die Gewichtung wurde mehrfach verwaltungsintern und über die AG Fußverkehrsförderung mit der Fachöffentlichkeit diskutiert und auch in ihrer Auswirkung auf das Gesamtergebnis zusammen mit den Stadtbezirks- und Ortschaftsräten in ihrer lokalen und nahräumlichen Ausprägung evaluiert und angepasst.

Sonderfall Haltestellen

Einen Sonderfall in der Bedeutungsgewichtung stellen die ÖPNV-Haltestellen dar. Dort ist der Grundwert um weitere Bedeutungspunkte ergänzt worden. So erhielten Umstiegshaltestellen, die einen Verknüpfungspunkt darstellen, extra Bedeutungspunkte. Auch eine erhöhte Bedienungshäufigkeit führt zu höheren Bedeutungen der Haltepunkte. Ebenfalls flossen die ehemaligen Dorfkerne der Stadtrandlagen in die Wertung als Sonderfälle ein.

Die Bewegungsdaten flossen zum großen Teil auf die Wege in den Parkanlagen ein. Da diese ansonsten zu wenig Bedeutung aufwiesen.

Verkehrswegenetz

Das für die Analyse zugrundeliegende Wegenetz basiert auf zwei Datensätzen. Zum einen das Wegenetz von OSM als Linien und zum anderen Verkehrsflächen als Polygone von der Stadt Leipzig. Während die Verkehrsflächen nur jene Flächen umfasst, die in der Liegenschaft des Verkehrs- und Tiefbauamtes liegen, umfasst das Wegenetz von OSM auch Wege in Grünanlagen (Liegenschaften Amt für Stadtgrün und Gewässer), Wege im halböffentlichen und privaten Raum und teilweise auch informelle Wege, die letztlich auch bedeutsame Verbindungen für den Fußverkehr darstellen. Der Datensatz der OSM-Wege wurden lediglich um jene Wege bereinigt, die nicht durch zu Fuß Gehende begangen werden können (z.B. Autobahnen und Autobahnauffahrten). Wichtig war es, ein umfassendes Wegenetz anzulegen, das alle potenziell nutzbaren Wegeverbindungen enthält. Damit kann die Realität besser abgebildet werden, da jeder Weg von Menschen genutzt wird, wenn er angeboten wird (ob gewidmet oder nicht).

Ergebnis

Nach Durchlauf der Berechnungen konnte im Ergebnis eine Karte erstellt werden, welche an vielen Orten deckungsgleich mit den gefühlten Wahrnehmungsmustern der urbanen Zentren und Aufenthaltsräume ist. Die höchsten Bedeutungswerte wurden deshalb ebenso in der Leipziger Innenstadt erreicht. Der höchste errechnete Wert liegt sogar direkt auf dem Leipziger Marktplatz. Generell zeigt sich, dass Dienstleistungen, Einzelhandel und Gastronomie aufgrund räumlicher Ballungen die Bedeutungsräume des Fußverkehrs deutlich prägen. Beziehungsweise stehen natürlich viele Bedeutungsträger in direkter Abhängigkeit zueinander und bedingen sich gegenseitig. So sind natürlich Haltestellen bestenfalls dort zu finden, wo viele andere Randnutzung vorherrschen. Entsprechend zeichnen sich auch die im Stadtentwicklungsplan (STEP) von A bis D definierten Zentren deutlich ab. Aber auch abseits dieser definierten Zentren gibt es Räume mit sehr hohen Bedeutungsausprägungen.

Ausblick

Die Einsatzbreite des Bedeutungsplans ist vielseitig. Aus diesem Grund plant die Stadt Leipzig diesen Bedeutungsplan auch als offizielles Plan­instrument im städtischen Fußverkehrsentwicklungsplan zu bestätigen. Eine finale Beschlusslage zum Zeitpunkt dieses Artikels lag jedoch noch nicht vor. Die möglichen Anwendungsfelder des Bedeutungsplans reichen von der Priorisierung von Baumaßnahmen und Instandsetzungen bis hin zur Ableitung von möglichen Potenzialräumen und Entwicklungszielen.

Ebenso können mögliche Konfliktbereiche oder Flächenkonkurrenzen evidenzbasiert aufgezeigt werden. Wenn die Netzplanungen anderer Verkehrsarten über den Bedeutungsplan gelegt werden, kann zum Beispiel erkannt werden, dass eine innergemeindliche Radschnellverbindung einen Raum mit hoher Bedeutung für den Fußverkehr kreuzt, wo entsprechende Ableitungen notwendig werden. Ebenso wäre es auch möglich, Schwerpunktgebiete für die Verkehrsüberwachung zu definieren. Da in Gebieten mit einer hohen Bedeutung für den Fußverkehr personelle Ressourcen zielgerichtet eingesetzt werden könnten. Dies trifft auch auf die einleitend erwähnten 2.000 Meldungen zu. Durch den Bedeutungsplan ist es nunmehr möglich, Schwerpunkte in der Bearbeitung zu setzen und peu à peu den Riesenberg an Notwendigkeiten abzuarbeiten.

Dieser Artikel von Friedemann Goerl und Frederik Sander ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2023, erschienen.

Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.