Temporäre Umgestaltungen von Straßen und öffentlichen Räumen fördern den nachhaltigen Verkehr und können die Lebensqualität der Bevölkerung verbessern. Schweizweit wurden in den letzten Jahren mit Projekten in unterschiedlichster Ausprägung Erfahrungen damit gesammelt.

Manchmal geht Probieren über Studieren

Aktuell stehen wir vor der großen Herausforderung, dem Klimawandel und dem Rückgang der Biodiversität mit wirksamen Maßnahmen zu begegnen. Der Umstieg auf eine nachhaltige Mobilität wie dem Zufußgehen und Fahrradfahren und die Reduktion des motorisierten Verkehrs leistet einen wichtigen Beitrag dazu. Der Handlungsbedarf ist groß, für die Bevölkerung die öffentlichen Räume aufzuwerten und der Natur wieder mehr Platz zu geben – damit kann auch die Lebens- und Wohnqualität gesteigert werden.

Aufwertung partizipativ testen

Um herauszufinden, was dafür nötig ist, sind temporäre Umgestaltungen von Straßen und Plätzen ein nützliches Mittel. Diese neue Art im Siedlungsraum zu planen, bezieht sich auf die Tradition des „tactical urbanism“ der auf kleinräumigen, kostengünstigen und zeitlich begrenzten Umgestaltungen beruht. Diese dienen dazu, zu testen, welche Maßnahmen sich eignen, um Verbesserungen zu erreichen und welche davon allenfalls von einer temporären zu einer langfristigen Lösung werden können.

Voraussetzung dafür sind partizipative Prozesse, mit denen gezielt auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingegangen und das soziale Miteinander angeregt werden kann. Die Umnutzung des öffentlichen Raums im Rahmen solcher Projekte lädt die Bevölkerung dazu ein, sich ihre Wohnquartiere wieder aufs Neue anzueignen und selbst mitzugestalten. Es zeigt sich zudem, dass solche temporären, von der Bevölkerung mitentwickelte Projekte weniger anfällig auf Widerstand und Opposition sind.

Gerade in den städtischen Zentren wird momentan mit provisorischen Gestaltungen getestet und gepröbelt, was das Zeug hält. Einige Beispiele aus der neuen Publikation von Fussverkehr Schweiz mit dem Titel „Temporäre Gestaltungen – Neue Wege, die Stadt zu entdecken“ sollen einen Überblick über aktuelle Projekte geben (Download: www.fussverkehr.ch/publikation).

Begegnungszonen mehr Leben einhauchen

Die Städte Bern und Zürich gehören zu den Vorreitern bei der Einrichtung von Begegnungszonen.(1) In beiden Städten bestehen über 100 solcher Zonen, in denen Tempo 20 gilt und die Menschen zu Fuß Vortritt haben. Ein großer Vorteil dieses Verkehrsregimes ist, dass es in verschiedensten Kontexten angewendet werden kann; in Wohnquartieren, im Einflussbereich von Schulen, auf Bahnhofplätzen, an belebten Einkaufsstraßen etc. Insbesondere in den Wohnquartieren findet jedoch in der Realität trotz Verkehrsberuhigung noch zu wenig Aneignung statt. Das Potenzial der Quartiers-Straßen als Begegnungs- und Spielraum wird nicht ausgeschöpft.

Deshalb hat Fussverkehr Schweiz im Sommer 2022 während dreier Monate in Zusammenarbeit mit dem Dachverband für Offene Kinder- und Jugendarbeit DOJ das Pilotprojekt „Begegnen, Bewegen, Beleben in Quartieren von Bern und Zürich“ durchgeführt.2 Dabei wurden mit Anwohnenden zusammen Begegnungszonen in Straßen temporär mit Möbeln, Bemalung und Pflanzen ausgestattet. Der Vorteil eines solchen Vorgehens: Anwohnende verfügen über lokales Knowhow und wissen meistens genau, wo der Schuh drückt. Zudem wird ein gemeinsam gestalteter Raum von ihnen mehr gepflegt. Das Angebot, mitzumachen, wurde von der Bevölkerung rege genutzt, viele griffen selbst zu Hammer, Spaten und Pinsel und werkelten fleißig mit. Die Quartiersbewohnerinnen und -bewohner konnten stets ihre Meinung zum Projekt einfließen lassen und wurden mehrfach dazu befragt.

Die Aktion verlief erfolgreich. Während der Testphase wurden deutlich mehr Interaktionen im öffentlichen Raum festgestellt – die Leute begegneten sich vermehrt, konnten sich in der umgestalteten Zone ungestört und einfach bewegen und die Quartiere wurden belebt. Eine Entschleunigung fand statt, und die Hektik des Stadtlebens wurde gemindert. Dadurch wurden als gewollter Nebeneffekt auch das Zufussgehen und Velofahren gefördert.

Es entstehen Begegnungsorte

In Zürich wurde die Kyburgstraße in einem dicht bebauten Quartier als Schauplatz für eine Aufwertung auserkoren. Sie wurde temporär möbliert und es parkten weniger Autos, der motorisierte Verkehr nahm deutlich ab, Menschen zu Fuss und auf dem Fahrrad waren deutlich in der Mehrzahl. Alle Altersgruppen von Jung bis Alt wurden von der neu gestalteten Begegnungszone angezogen, sie wurde zu einem populären Treffpunkt. Die aufgestellten Tische waren besonders beliebt, dort setzten sich die Leute zum Essen hin oder auch nur um gemütlich zu reden oder Brettspiele miteinander zu spielen – wo kann man das sonst auf einer Straße, ohne Angst haben zu müssen, überfahren zu werden? Anwohnende bemalten den Asphalt bunt, so ergab sich auch von außen ein farbiges und lebensfrohes Bild, und der Nachwuchs konnte herumklettern und sich austoben. Anfangs gab es Befürchtungen seitens der Bevölkerung, dass die Umgestaltung zu mehr Lärm und Festbetrieb führen würde. Das war aber nicht der Fall. Die wissenschaftliche Begleituntersuchung hat gezeigt, dass das Projekt von vielen Personen begrüßt wurde und die Rückmeldungen aus dem Quartier überwiegend positiv waren.

In der Bundeshauptstadt Bern wurde der Benteliweg umgestaltet – dies stieß vor allem bei den Kindern auf Begeisterung. Denn diese Straße ist in der unmittelbaren Nähe von Kindergärten und Kitas – dementsprechend wurde während der Testphase der Benteliweg von viel mehr Kindern als zuvor besucht, aber auch die älteren Semester unter den Anwohnenden waren vermehrt dort anzutreffen. Spielerische und kreative Aktivitäten nahmen deutlich zu, die Möbel auf dem Trottoir regten die Kinder dazu an, der Straßenraum wurde mit Leben erfüllt. Der Versuch kann also als Erfolg gewertet werden, doch gab es auch hier kritische Stimmen. Die Verkehrssicherheit wurde teilweise als ungenügend kritisiert – denn der Benteliweg wird vom lokalen Gewerbe als Durchgangs-Straße genutzt. Auch hier zeigte sich aber, dass die Umgestaltung sich bezüglich der nachhaltigen Mobilität positiv auswirkte, denn die motorisierte Verkehr nahm deutlich ab.

Begleitstudien zeigen Potenziale

Die extern durchgeführte, systematische Vorher-Nachher-Analyse3 zeigt auf, dass die Umgestaltung an der Zürcher KyburgStraße tatsächlich zu mehr Aktivitäten und Begegnungen führte und einen bisher nicht erfüllten Bedarf bediente. Zum Erfolg beigetragen hat die partizipative Entwicklung vor Ort und die Möglichkeit der Mitwirkung und der Eigeninitiative. Eine „von oben verordnete Neugestaltung“ ist hingegen keine gute Ausgangslage, um die nötige Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhalten. Die Erkenntnisse leisten einen Beitrag, herauszufinden, welche Gestaltungselemente und Prozesse helfen, die Aufenthaltsqualität zu steigern und die Aneignung des Lebensraums durch die Menschen zu verbessern.

Geschätzte „Sommerinseln“ in Biel

In Biel trägt ein temporäres Umgestaltungsprojekt am Unteren Quai den poetischen Namen „Sommerinseln“. Der Untere Quai, der die Innenstadt mit dem See verbindet, wird von den Bieler Bevölkerung geschätzt, obschon er eher als funktionale, weitgehend dem Autoverkehr überlassene Verbindungsachse dient, denn als Ort für Flanieren und Erholung. Schon lange wird über die Aufwertung dieses bedeutenden städtischen Raumes spekuliert. Bevor ein definitives Projekt ausgearbeitet wurde, entschloss sich die Stadtplanung zunächst mit Test-Interventionen, die zusammen mit der Bevölkerung entwickelt und umgesetzt wurden, Erfahrungen zu sammeln.

Vom Juni bis September 2019 wurde der Untere Quai provisorisch umgestaltet, gleichzeitig eine Brücke für den motorisierten Verkehr gesperrt und einige Parkplätze umgenutzt. Die dort wohnenden Menschen konnten ihre Ideen und Wünsche einbringen und nutzten den Raum sehr gerne, die Resonanz war positiv. Das Experiment wurde 2022 mit modifizierten Interventionen wiederholt und parallel die Elemente eines inzwischen entwickelten Vorprojekts zur Umgestaltung des Quais zur Diskussion gestellt. Um zu erfahren, wie die Leute darauf reagieren, wurden Befragungen und Workshop-Spaziergänge durchgeführt.

Die Bilanz der Stadtbehörden ist bislang positiv. Die temporären Umgestaltungen werden von der Bevölkerung geschätzt und machen die Vorgaben für ein zukünftiges Projekt fassbarer. Dank der Alltagsexpertise weisen die Benutzerinnen und Benutzer immer wieder auf relevante Aspekte hin. Dies ist umso befriedigender als der partizipative Prozess erhebliche personelle Mittel bindet und eine aktive Kommunikation erfordert.

Oft längere Nutzungsdauer

Erfolgreiche temporäre Gestaltungen können weit über die ursprünglich vorgesehene Einsatzdauer hinaus verlängert werden. Wenn sie attraktiv sind und den Bedürfnissen entsprechen, werden diese Einrichtungen bis zu zehn Jahre weiter betrieben. So wurden etwa Projekte in den Westschweizer Städten Nyon und Sion aufgrund des überwältigenden Rückhalts seitens der Bewohnerinnen und Bewohner über Jahre verlängert. Die dortigen temporären öffentlichen Räume lassen Kreativität und multifunktionale Nutzungen zu, und werden – auch weil sie günstig sind – von den Nutzerinnen und Nutzern positiv aufgenommen. Die Eingriffe können jederzeit rückgängig gemacht werden. Befragungen haben aber gezeigt, dass die Zonen als „Erlebnislandschaften“ wahrgenommen und die Bevölkerung die vielfältigen Möglichkeiten zur Nutzung schätzen.

Vereinfache Verfahren nötig

Temporäre Gestaltungen stellen für Städte zweifellos eine Bereicherung dar. Alle Erfahrungen zeigen, dass insbesondere der Fußverkehr gleich mehrfach davon profitiert. Das Gehen als aktive Mobilitätsform wird gefördert und die Zahl der Bewegungen zu Fuß nimmt zu. Zusätzliche Aufenthaltsangebote werden dankbar angenommen, so dass mehr Fußgängerinnen und Fußgänger zu beobachten sind, die verweilen oder sich ausruhen. Dies führt zu einer Belebung des öffentlichen Raumes, zu mehr sozialen Interaktionen und einer größeren Identifikation des Wohnumfeldes.

Die Ausprägung von temporären Gestaltungen ist ganz unterschiedlich. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie entwicklungsfähig sind und je nach Bedürfnissen kurzfristig und flexibel angepasst, erweitert oder verschoben werden können. Die Erfahrungen mit solchen provisorischen Einrichtungen können als wichtige Grundlagen für die Erarbeitung von definitiven Projekten dienen.

Daher ist eine systematische Evaluation der Auswirkungen auf der Basis von Beobachtungen vor Ort zentral. Allerdings können die heutigen Bewilligungsverfahren und administrativen Prozesse entmutigend wirken und sollten vereinfacht werden. Um die erzielten Effekte über einen repräsentativen Zeitraum testen und analysieren zu können, wäre die öffentliche Hand gut beraten, temporäre Gestaltungen nicht als Bauprojekte, sondern als partizipative Prozesse mit flexiblem Maßnahmenmix zu begreifen.

Temporäre Gestaltungen sind also nicht als unwichtiges Nebenprodukt, sondern als notwendige Phasen bei komplexen, lernorientierten Planungsprozessen im Siedlungsbereich zu begreifen. Konsequenterweise ist vorausschauend auch zu berücksichtigen, dass die finanziellen und personellen Ressourcen für Betrieb und Unterhalt beziehungsweise Erneuerung und Weiterentwicklung der provisorischen Maßnahmen als integraler Bestandteil des Planungsprozesses betrachtet werden.

Quellen:

(1) Informationen über Begegnungszonen und Beispiele: www.begegnungszonen.ch

(2) Informationen zum Pilotprojekt: www.fussverkehr.ch/begegnen

(3) Zwischenbericht der Vorher-Nachher-Analyse vom Februar 2023. Die ausführlichen Resultate der wissenschaftlichen Begleitstudie werden Ende 2023 publiziert.

 

Dieser Artikel von Pascal Regli ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2023, erschienen.

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