Fragt man Verantwortliche aus Schule, Kommunalverwaltung oder der Polizei, wer früher regelmäßig von den Eltern mit dem Auto zur Grundschule gefahren worden ist, bricht nicht selten ein Gelächter aus. Selbstverständlich kamen die Kinder zu Fuß, mit dem Rad oder auf dem Land mit dem Bus zur Grundschule. Autofahrten waren die Ausnahme. Dabei gelten selbstständig bewältigte Schulwege von Kindern als gesundheits-, entwicklungs- und lernfördernd und liefern auch einen Beitrag zur Verkehrssicherheit, denn die Kinder gewinnen wichtige Erfahrungen als „Verkehrsteilnehmer“. Außerdem hat wohl jedes Kind früher spannende oder prägende Geschichten erlebt oder einen „Schatz“ auf dem Schulweg gefunden. Der Schulweg ist offenkundig mehr als nur eine Ortsveränderung, er ist eine wertvolle Phase in der Entwicklung von Grundschulkindern, den es zu erhalten gilt.

Wachsender Elterntaxi-Anteil

Seit Jahren steigt der Anteil der Kinder, die mit dem Auto zur Grundschule kommen. Durchschnittlich 33 % der Kinder kommen bei mäßiger Witterung regelmäßig mit dem Auto zur Grundschule.(1) Dabei kann der Elterntaxianteil regional und örtlich von Schule zu Schule zwischen 3 % und 70 % schwanken. Freie Schulwahl, hohe Kfz-Verfügbarkeit, veränderte Erwerbsbiografien, Zeitdruck in den Familien, Sorge der Eltern vor Verkehrsunfällen oder Sorge vor Kriminalität können zunehmende Hol- und Bringverkehre begünstigen.

Hohes Dunkelfeld auf Schulwegen zur Grundschule

Häufig unterschätzt oder unbekannt ist das Dunkelfeld von Kinderunfällen auf dem Weg zur Grundschule. Während die polizeiliche Unfallstatistik im Schnitt von etwa 2,7 Kinderunfällen der 6- bis 9-Jährigen pro 1.000 Kindern in der Altersgruppe ausgeht, sind es in der Statistik, die die Träger der Unfallversicherungen führen, in der Grundschule bereits 5,63 meldepflichtige Schulwegunfälle pro 1.000 versicherte Grundschüler. Eigene Statistiken auf Basis von Elternbefragungen an knapp 100 Grundschulen bundesweit mit über 10.000 befragten Eltern bzw. Kindern zu Schulwegunfällen haben gezeigt, dass von einem höheren Kinderunfallgeschehen ausgegangen werden muss, als es aus den amtlichen Unfallstatistiken ablesbar ist. Die Befragungsergebnisse ergaben einen Wert von 10,14 verunfallten Kindern auf Schulwegen pro 1.000 Kinder, die aufgrund des Unfalls einen Arzt aufsuchen mussten.

Tradierte Maßnahmen mit geringer Wirkung

Appellative Ansprachen an die Eltern, repressive Maßnahmen durch Ordnungsämter und Polizei gehören zum Standardrepertoire zur Eindämmung von Elterntaxis vor den Schulen. Der jährliche Elternbrief der Schulleitung, der Eltern­abend mit „Ermahnungen“ der Eltern, das Ordnungsamt, das regelmäßig patrouillieren soll oder der Schwerpunkteinsatz des örtlichen Verkehrsbeamten, der die Einhaltung der Verkehrsregeln durchsetzen soll, sind Alltag an deutschen Grundschulen. Erheblicher Personaleinsatz, Frust bei allen Beteiligten und in der Regel eine geringe und nicht nachhaltige Verbesserung der Situation sind häufig das Ergebnis.

Lösungsansatz: 3-Säulen-Modell „Mehr Freude am Gehen“

Man muss schulische Mobilität verstehen, um sie verändern zu können. Zu den Erfolgsfaktoren für mehr Freude am zu Fuß gehen und damit weniger Hol- und Bringverkehr vor den Schulen gehören drei Schlüsselkriterien, die in Kombination erfüllt sein sollen (MAS-Kriterien):

  • Motivation
  • Attraktivität
  • Sicherheit

Um dies erreichen zu können, ist das 3-Säulen-Modell „Mehr Freude am Gehen“ entwickelt worden. Hierzu gehören folgende Bausteine:

  • Ein moderner Schulwegplanungsprozess mit sicheren Schulwegen, die den Kompetenzen der Kinder altersangemessen entsprechen und eine fehlerverzeihende Gestaltung aufweisen.(2)
  • Die Einrichtung von Hol- und Bringzonen für Kinder, die keine altersangemessenen Schul­wege haben.
  • Die Verankerung eines schulischen Mobilitätsbildungsprogramms wie z.B. das Verkehrszähmer-Programm (NRW) (3), das Fußgängerprofi-Programm (Niedersachsen) (4) oder vergleichbare Projektansätze mit Verstärkermechanismen.

Dieses 3-Säulen-Modell „Mehr Freude am Gehen“ wurde als methodisches Gesamtkonzept erstmalig 2014 durch die Autoren erfolgreich in NRW umgesetzt.(5)

Umsetzungsschritte für schulisches Mobilitätsmanagement

Zur Umsetzung des 3-Säulen-Modells sind folgende 12 Schritte zu empfehlen:

  1. Projektmotivation (Gründung einer Arbeitsgruppe (Schule, Kommune, Polizei, Elternvertretung), Vorstellung Gesamtansatz, ggf. politischer Beschluss)
  2. Sichtung der Unfalldaten im Schulumfeld (5-Jahres-Zeitraum, Berücksichtigung bei den Schulweganalysen)
  3. Schriftliche Elternbefragung zum Mobilitätsverhalten, zu Schulwegrouten und zu subjektiven Problemstellen
  4. Überprüfung der Schulwege und Problemstellen (Bestandsauditierung und kompetenzorientierte Bewertung der Schulweghauptrouten und Problemstellen der Kinder; hilfreiche Frage: Kann ein Kind von 6 bis 7 Jahren diese Verkehrsaufgabe selbstständig, von Eltern unbegleitet und unfallfrei bewältigen?)
  5. Standortauswahl der Hol- und Bringzonen im Umfeld von 200 bis 400 Metern zur Schule (s. Kriterien Leitfaden(6))
  6. Schulumfelderkundung (Hauptschulwege und Wege von den Elternhaltestellen) mit Kindern zum Kennenlernen und Einübung der Schulwege
  7. Lehrerfortbildung zur Mobilitätsbildung (z. B. Verkehrszähmer-Programm (NRW), Programm Fußgängerprofi (Niedersachsen))
  8. Umsetzung von Maßnahmen zur Schulwegsicherung („Grundbedürfnis“ für ein erfolgreiches schulisches Mobilitätsmanagement; orientiert an den Kompetenzen der Kinder)
  9. Schulwegtraining mit Kindern
  10. Einweihung der Hol- und Bringzonen mit Kindern, kommunalen Spitzenbeamten und Presse
  11. Aktualisierung der Schulwegpläne (Berücksichtigung der Hol- und Bringzonen, realistische Wegeempfehlungen auf sicheren Schulwegen)
  12. Evaluation (Wirkungen messen: Verbesserung der Situation vor der Schule, weiterhin bestehende Probleme auf den Wegen oder an den Elternhaltestellen; ggf. nachsteuern)

Evaluationsergebnisse

Dass der oben beschriebene Projektansatz erfolgreich umgesetzt werden kann, es aber auch Grenzen der Wirksamkeit des Konzeptes gibt, zeigen die im Folgenden dargestellten Ergebnisse. In den Jahren 2016 und 2017 wurde das 3-Säulen-Modell „Mehr Freude am Gehen“ an der Andreasschule in Essen umgesetzt. Im Juni 2017 fand die Einweihung von zwei Hol- und Bringzonen an dieser Schule statt. Die Standorte der Hol– und Bringzonen wurden mit einem besonderen nichtamtlichen Verkehrszeichen „Hol- und Bringzone“ beschildert (s. Titelfoto dieser Ausgabe). Zur Verbesserung der Schulwege setzte die Stadt Essen verschiedene Verkehrssicherheitsmaßnahmen um (z.B. Verbesserung von Sichtbeziehungen). Im Herbst 2017 konnten die Eltern der Kinder an der Andreasschule im Rahmen einer schriftlichen Befragung über ihre Erfahrungen mit dem umgesetzten Projekt berichten. Ausgewählte Ergebnisse werden im Folgenden dargestellt.

Bewertung der Projektidee

Das Konzept, Eltern eine Haltemöglichkeit abseits der Schule anzubieten, um die Fußwege und die Verkehrssicherheit vor der Schule zu erhöhen, wird akzeptiert. Mit über 90 % der Antworten wird das Projektkonzept sehr positiv bewertet (ohne Abbildung). Nur rund 7 % der Eltern bewerten das Projekt kritisch.

Weiterempfehlungsabsicht

Eltern empfehlen gut geplante Hol- und Bringzonen auch anderen Eltern. Ein hohes Maß an Zustimmung ist Voraussetzung für die Akzeptanz der Elternhaltestellen. Am Beispiel der Andreasschule in Essen konnte im Rahmen der Elternbefragung eine Weiterempfehlungsabsicht von über 90 % erreicht werden (ohne Abb.).

Entwicklung Mobilitätsverhalten

Ein zentrales Ziel ist die Förderung von Fußwegen der Kinder und eine Reduzierung der Elterntaxi-Verkehre zur Schule. Im Rahmen des Projektes erfolgte daher ein Vorher-Nachher-Vergleich des Mobilitätsverhaltens im Sommer und im Winter bzw. für gutes und für schlechtes Wetter (Abb. 1 und Abb. 2). Die Befragung der Eltern ergab, dass sowohl im Sommer als auch im Winter der Anteil an Fußwegen um rund 20 % gesteigert werden konnte und sich die Elterntaxis vor den Schulen im Sommer oder bei gutem Wetter nahezu halbiert haben. Auch im Winter oder bei schlechtem Wetter sanken die Elterntaxi-Verkehre und stiegen die Fußwege von Kindern im Vergleich zur Vorher-Situation an. Der Vorher/Nachher-Vergleich zeigt, dass der Anteil von zu Fuß gehenden Kindern von rund 56 % auf rund 77 % gestiegen ist (+21 % Fußgänger). Die Elterntaxi-Verkehre sind von rund 37 % auf rund 20 % gesunken (-17 %). Damit verursachen erheblich weniger elterliche Bringverkehre vor der Schule die typischen problematischen Situationen.

Einschätzung der Verkehrssituation vor der Schule durch die Eltern

Mehr zu Fuß gehende Kinder und weniger Eltern mit Autos vor der Schule wirken sich positiv auf die subjektiv wahrgenommene Verkehrssicherheitssituation aus. 85 % der Eltern gaben an, dass sich die Verkehrssituation vor der Schule im Vergleich zur Situation vor der Einrichtung der Elternhaltestellen verbessert hat. Ein kleiner Anteil von 15 % der befragten Eltern kann keine Verbesserung erkennen (ohne Abb.).

Fazit

Elterntaxiverkehr zu managen ist eine relativ komplexe Aufgabenstellung. Die tradierten appellativen und repressiven Lösungsansätze sind in der Praxis überwiegend gescheitert und aufgrund des hohen Personalaufwandes unwirtschaftlich.

Das Programm „Mehr Freude am Gehen“ funktioniert mit guter Wirksamkeit, wenn die drei erforderlichen Projektbestandteile konsequent umgesetzt werden. 20 % mehr Fußgänger und eine Halbierung der Elterntaxiverkehre sind bei überschaubarem Aufwand realistisch möglich.

Der „sichere Schulweg“ ist dabei die entscheidende Ausgangsgröße für den Projekterfolg und bildet die Basisanforderung insbesondere für die Eltern. Der sichere Schulweg ist dadurch definiert, dass die Kinder die Schulwege selbstständig mit ihren jeweiligen Kompetenzen unbegleitet bewältigen können. Die Abwesenheit von amtlichen Unfalldaten reicht nicht aus, um einen „sicheren Schulweg“ zu definieren. Es gilt im Schulumfeld eine altersangemessene, kom­petenzorientierte Verkehrsplanung konsequent umzusetzen.

Hilfreich ist es, politische Beschlüsse für die Durchführung des Projektes zu erwirken. Dies erleichtert hinterher ggf. die Umsetzung erforderlicher Maßnahmen für die Schulwegsicherung. Voraussetzung für ein erfolgreiches Konzept ist die Bereitschaft der Kommune und der Schule zur Mitwirkung.

Empfehlenswert ist es, für Kommunen ein eigenes Leitbild für eine kinderfreundliche Verkehrsplanung zu entwickeln, das sich intensiver an den Kompetenzen der Kinder orientiert.

Bei der Umsetzung der Projekte an Schulen sollten ggf. vorhandene Einflüsse durch Kitas oder weiterführende Schulen frühzeitig konzeptionell berücksichtigt werden. Insbesondere an weiterführenden Schulen ist zusätzlich mit großen Mengen an Elterntaxis zu rechnen.

Die Empfehlung einer durchschnittlichen Entfernung der Hol- und Bringzone von ca. 250 – 300 Metern abseits der Schule sollte eingehalten werden, da sowohl deutliche Unterschreitungen als auch Überschreitungen negativ bewertet werden.

Unverzichtbar ist auch die kontinuierliche pädagogische Arbeit in der Schule. Die motivierende Arbeit in den Schulen sollte fester Bestandteil des Gesamtkonzeptes im Rahmen der schulischen Mobilitätsbildung sein.

Unter ungünstigen verkehrlichen Rahmenbedingungen im Schulquartier kann es erforderlich sein, für dieses Quartier eine Gesamtverkehrsplanung zu entwickeln. Hier ist dann das 3-Säulen-Modell um eine weitere Säule einer integrierten Gesamtverkehrsplanung im Quartier zu erweitern.

Den Kommunen und Schulen kann empfohlen werden, zunächst ein Schulisches Mobilitätsmanagement im Sinne des hier vorgestellten 3-Säulen-Modells konsequent umzusetzen, um die Elterntaxi-Probleme im Umfeld der Schulen wirksam zu reduzieren.

Aufgrund der Komplexität der Aufgabenstellung ist es hilfreich, Entscheider und Mitarbeiter von Verwaltungen, Polizei, Kommunen und auch von Schulen im vorgestellten 3-Säulen-Modell fortzubilden, um ein gemeinsames Verständnis für die hier vorgestellte, erfolgreiche Lösungsstrategie zu entwickeln.

Quellen:

(1) Leven J., Leven T. (2018): Schulisches Mobilitätsverhalten von Grundschülern in Deutschland. Analyse von Mobilitätsbefragungen von 10.276 befragten Eltern an 93 Grundschulen in 25 deutschen Kommunen. Stand April 2018

(2) Leven J., Leven T. (2017): Sichere Räume, sichere Wege - Leitbild Wohlfühlmobilität, https://vm.baden-wuerttemberg.de

(3) Baker-Price, A. (2015): Verkehrszähmer Leitfaden. Verfügbar unter: www.zukunftsnetz-mobilitaet.nrw.de

(4) Meine, A.; Gottmann, T. (2018): Die Fußgänger-Profis – Unterrichtsmaterialien zur Mobilitätsbildung in den Jahrgängen 1 bis 3 der Grundschule. Verfügbar unter: www.nibis.de

(5) https://dosys01.digistadtdo.de www.verkehrswachthessen.de

(6) Winkler, R.; Leven, T.; Leven, J.; Beyen, M.; Gerlach, J. (2015): Das Elterntaxi an Grundschulen – Ein Leitfaden für die Praxis. ADAC e. V. München, 2015. In Kürze erscheint die 3. überarbeitete und ergänzte Auflage.

 

Dieser Artikel von Tanja und Jens Leven ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2018, erschienen.

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