Die Diskussion über ein nachhaltigeres Mobilitätsverhalten ist nach wie vor stark geprägt von Ideen zur Veränderung der Infrastruktur oder des ordnungspolitischen Rahmens. Große Potentiale, die bereits jetzt – ohne weitere Maßnahmen – erschlossen werden können, bleiben unbeachtet.

Die Fixierung auf „hard policies“

In der Mobilitätsplanung unterscheidet man die Maßnahmen, mit denen man das Verhalten beeinflussen möchte, in zwei Gruppen: Die sog. „hard policies“ sind Maßnahmen, die die externen Rahmenbedingungen des Mobilitätsverhaltens verändern, also vor allem Veränderungen der Infrastruktur (im weiteren Sinne) sowie ordnungspolitische oder fiskalische Maßnahmen. Dem stehen gegenüber die sog. „soft policies“, deren Ziel es ist, die internen Rahmenbedingungen des Mobilitätsverhaltens zu verändern, also beispielsweise Informations-, Awareness- oder Werbekampagnen. Dabei ist wichtig zu beachten, dass jegliche policy, ob hard oder soft, zunächst nur die Rahmenbedingungen, also die jeweiligen Verhaltenssituationen verändert und darauf hoffen muss, dass die betroffenen Menschen auch mit entsprechenden Verhaltensänderungen reagieren.

Valide Untersuchungen der subjektiven Verhaltenssituationen zeigen regelmäßig, dass unser Mobilitätsverhalten zu etwa gleichen Teilen bestimmt ist von externen wie von internen Faktoren. Das bedeutet, dass die Potentiale für hard und soft policies etwa gleich groß sind.

Diese Erkenntnis ist bedeutend, weil soft policies in aller Regel erheblich billiger sind als hard policies und sofort und flächendeckend eingesetzt werden können. Deshalb müsste man auch meinen, dass alle Verfechter einer nachhaltigen Mobilitätspolitik eine ganze Reihe von soft policy-Maßnahmen im Köcher haben. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Auch ernsthaft und engagiert geführte Diskussionen um eine nachhaltige Zukunft des Mobilitätsgeschehens sind stark dominiert von hard policy-Debatten und lassen die Potentiale für weiche Maßnahmen weitgehend außer Acht.

Wohin das führen kann, zeigt uns die Stadt Bend in Oregon. Das Fuß- und Fahrrad-Netz in Bend ist beispielhaft und weit über dem Standard amerikanischer, aber auch vieler europäischer Städte. Da verwundert es nicht, dass das amerikanische „Pedestrian and Bicycle Information Center (PBIC)“ die Stadt Bend 2013 mit einem Preis (Silver level) für „Walk Friendly Communities (WFC)“ ausgezeichnet hat (for „its success in working to improve a wide range of conditions related to walking, including safety, mobility access and comfort“). Dass dabei wieder nur die „hard policy-Brille” benutzt wurde, zeigt ein Blick auf die Verkehrsmittelwahl in Bend:

 

Bildbeschreibung

mobilogisch!-Leser erinnern sich vielleicht an unseren Beitrag „Das Verkehrsmittel Zu Fuß. Was wir (nicht) wissen.“ in der Ausgabe 4/14. Dort haben wir die Verkehrsmittelwahl im Winter gezeigt, mit anderen amerikanischen Städten verglichen und belegt, dass auch die vorbildlichste Infrastruktur für Fußgänger und Radfahrer automatisch zu einer nennenswerten Nutzung führt, wenn sie nicht durch – möglichst ebenso vorbildliche – soft policies begleitet wird. Diesmal haben wir die Sommer-Daten ergänzt. Die machen das Bild noch schlimmer (nur 8 % nichtmotorisierter Verkehr!). Und wenn man die Pkw-Fahrten untergliedert in Solo (fährt alleine) und Plus (mit Passagieren) findet man einen der höchsten „Solo-Werte“, den wir in unseren weltweiten Untersuchungen je gemessen haben.

 

Bildbeschreibung

Die übersehenen Potentiale

Diese und viele andere Erfahrung(en) haben uns veranlasst, die Verlagerbarkeit von Pkw-Fahrten im bestehenden System (also ohne hard policies) zu ermitteln und daraus das Potential für reine soft policies zu bestimmen. Daran bestand großes Interesse vor allem im Ausland, insbesondere in Australien, Großbritannien und den USA. Der folgende Vergleich umfasst in Perth die Stadtteile Fremantle, Melville, South Perth und Victoria Park (= Australien); in England die Städte Exeter, Gloucester, St. Albans und Watford (= Europa) und die Städte Bellingham, Eugene, Portland und Salem (= USA).

In allen drei Kontinenten ist die ÖPNV- und vor allem die Fahrrad-Nutzung gering, der Anteil der Pkw-Fahrer dagegen (sehr) hoch. Dass das nicht so sein muss, zeigen die Potentiale (nur soft policies) gegenüber den Verkehrsmitteln des Umweltverbundes. Drei Viertel der Pkw-Fahrten in „Australien“ oder „Europa“ sind durch Sachzwänge an das Auto gebunden (z. B. schwere Gepäckstücke, Oma muss ins Krankenhaus etc.) oder haben keine angemessene Alternative; in Amerika liegt dieser Anteil bei fünf Sechstel.

 

Bildbeschreibung

Das bedeutet aber, dass ein Viertel bzw. ein Sechstel dieser Pkw-Fahrten durch soft policies erreichbar wäre. Und 3-5 % dieser Fahrten sind bereits heute „wahlfrei“, d. h. es gibt keinen „objektiven“ oder „subjektiven“ Grund gegen die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel.

Wenn wir die gleichen Potentiale gegenüber dem Fahrrad betrachten, springen drei Dinge sofort ins Auge: Die Werte sind – trotz völlig unterschiedlicher Ausgangslage – praktisch identisch; der Anteil der Fahrten, bei denen das Fahrrad ausschließlich aus subjektiven Gründen nicht genutzt wird, ist weitgehend gleich mit dem korrespondierenden Anteil beim ÖPNV; der Anteil wahlfreier Fahrten ist aber deutlich höher und liegt durchwegs über 10 %.

 

Bildbeschreibung

Diese Fahrten zu gewinnen ist nicht so schwer, denn diese Menschen halten bereits jetzt das Fahrrad für eine – objektiv und subjektiv – gleichwertige Alternative. Wenn es gelänge nur 3 %-Punkte für das Fahrrad zu gewinnen (etwa ein Viertel aller Wahlfreien) würde der Fahrradverkehr in Australien um 150 % ansteigen, in England um 100 % und in Amerika um 75 %. Und der Pkw-Verkehr in Australien würde bereits um 5 % sinken, in England um sieben und in Amerika um fünf.

 

Bildbeschreibung

Am geringsten sind die (Pkw-) Potentiale für soft policies beim Verkehrsmittel Zu Fuß. Aber auch hier sind die Ergebnisse über drei Kontinente verblüffend ähnlich. Bei 8-11 % der Pkw-Fahrten erklärt sich die Verkehrsmittelwahl aus subjektiven Gründen gegen das Zufußgehen, bei 4-6 % herrscht bereits jetzt Wahlfreiheit.

Soft policies sind anders

Bereits jetzt können wir feststellen, dass es beachtliche Potentiale an Pkw-Fahrten gibt, die mit soft policies auf ein Verkehrsmittel des Umweltverbundes verlagert werden könnten. Darunter sind die Wahlfreien eine besonders leicht zu gewinnende Gruppe. Bei Pkw-Fahrten, die ausschließlich aus subjektiven Gründen die Alternativen nicht nutzen, lohnt es sich dagegen, diese subjektiven Gründe genauer anzusehen.

 

Bildbeschreibung

Dabei ist – und das ist lange bekannt – der wichtigste subjektive Grund gegenüber dem ÖPNV die fehlende Information über das real vorhandene Angebot (trotz moderner digitaler Möglichkeiten). Es folgt eine negative Einstellung gegenüber dem öffentlichen Verkehr („Akzeptanz“), die weit weniger leicht behoben werden kann als andere subjektive Gründe. Der dritte Aspekt („Zeit“) ist wieder ein klassischer subjektiver Grund, der leichter behebbar wäre. Denn alle Fahrten, bei denen die ÖPNV-Nutzung unangemessen lang gedauert hätte, sind schon bei „ohne Alternativen“ ausgeschlossen. In dem jetzt gezeigten Zusammenhang bedeutet „Zeit“ nur „subjektiv zu lang“. Nach wie vor wird die Reisezeit (= von Tür-zu-Tür) im ÖPNV über- und im Pkw unterschätzt. Wenn beide Reisezeiten real gleich lange sind, halten wir subjektiv den ÖPNV für deutlich langsamer (50-100 %). Das muss man nicht hinnehmen und das korres­pondierende Potential würde eine Maßnahme mehr als rechtfertigen. Dagegen spielen die Kosten bei der Verkehrsmittelwahl eine weit geringere Rolle als oft vermutet.

Wenn wir dagegen die subjektiven Gründe ansehen, die gegen eine Fahrrad-Nutzung oder das Zufußgehen gesprochen haben, fällt ein Grund weg (Kosten) und zwei neue kommen hinzu (Kommunales Klima, Komfort). Es gibt diese neuen Gründe auch beim ÖPNV; dort sind sie aber zahlenmäßig so schwach ausgeprägt, dass wir sie unter „Andere“ subsumiert haben.

 

Bildbeschreibung

Zwar ist bei beiden Verkehrsmitteln die Einschätzung der Reisezeit noch immer der wichtigste subjektive Grund (eine Faustregel besagt, dass in beiden Fällen die alternative Reisezeit etwa doppelt so hoch geschätzt wird als sie wirklich ist), aber die Aspekte Komfort und kommunales Klima sind fast gleichbedeutend. Dabei ist Komfort sehr vielfältig, individuell und nicht immer leicht behebbar. Dagegen ist das kommunale Klima gut beeinflussbar und ein wichtiger Aspekt für nachhaltigere Mobilität.

Soft policies sind wirksam

In allen drei ausgewählten Gebieten wurde nicht nur das Mobilitätsverhalten untersucht und das Potential für Verhaltensänderungen abgeschätzt, sondern es wurden auch soft policies zur Verlagerung von Pkw-Fahrten auf Verkehrsmittel des Umweltverbundes eingesetzt. Das war in allen drei Fällen das sogenannte „Individualisierte Marketing („IndiMark“). Dabei werden alle Bewohner(innen) eines Gebietes persönlich angesprochen, motiviert, informiert und zu einem Umstieg auf die Verkehrsmittel des Umweltverbundes angeregt. Veränderungen an der Infrastruktur oder andere externe Maßnahmen sind dabei ausgeschlossen.

In allen drei Gebieten lag die Projektgröße für IndiMark bei etwa 100.000 Zielpersonen. In allen Fällen wurde das Verhalten vorher und nachher (mit Kontrollgruppe) untersucht (jeweils ca. 15.000 Personen).

 

Bildbeschreibung

Das Ergebnis war eindeutig: Über alle Gebiete zusammen wurde jede neunte Pkw-Fahrt (11 %) verlagert, in Australien und Europa sogar zwölf Prozent, in Amerika immerhin noch acht. Wirklich bemerkenswert ist aber der Beitrag der einzelnen Verkehrsmittel zu dieser Verlagerung. Der weit­aus größte Teil der Pkw-Fahrten wird nämlich – durchgängig in allen drei Kontinenten – durch das Zufußgehen ersetzt (überall über 50 %!). Dagegen ersetzt der ÖPNV „nur“ zwei Prozent der Pkw-Fahrten. Auch das wäre schon eine Steigerung des ÖPNV um ein gutes Viertel in „Australien“, ein gutes Fünftel in „Europa“ und sogar zwei Drittel in „USA“ und damit wiederum eine Wirkung, die auch für viele „hard policy-Projekte“ nicht leicht erreichbar wäre. Aber die Wirkung bei Zu Fuß ist zwei bis dreimal höher.

Die Reduzierung von 11 % Pkw-Fahrten (über alle drei Gebiete) ist ein starker Beleg dafür, dass auch mit soft policies große Wirkungen erzielt werden können.

 

Bildbeschreibung

Dabei ist das Potential für soft policies bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Denn über alle drei Gebiete und gegenüber allen drei Verkehrsmitteln sind nur etwa die Hälfte aller Pkw-Fahrten durch Sachzwang oder mangelnde Alternative an das Auto gebunden. Bei einem knappen Drittel verhindern lediglich subjektive Gründe einen Verkehrsmittelwechsel und gut jede sechste Fahrt (18 %) ist für mindestens die Verkehrsmittel des Umweltverbundes wahlfrei.

Aus diesem Potential wurden mit einer spezifischen soft policy-Maßnahme 11 % gewonnen, nur ein knappes Viertel des gesamten subjektiven Potentials (48 %). Obwohl klar ist, dass es auch subjektive Gründe gibt, die man nur schwer entkräften kann, wird deutlich, dass ein gezielter Einsatz von soft policies noch sehr viel wirksamer sein könnte.

Und natürlich schließt die Fokussierung auf soft policies den Einsatz von hard policies nicht aus. Im Gegenteil: Die Integration beider Maßnahmen in ein Projekt wäre besonders erstrebenswert.

Hard und soft policies im Vergleich

Ein eindrucksvolles Beispiel für die Wirkung solcher integrierter Marketingansätze findet sich in der Stadt Rockingham, etwa 60 km südlich von Perth. Hier wurde das ÖPNV-System wesentlich verbessert (Bau einer Lightrail-Linie). Die neue Linie wurde mit der üblichen Marketing- und Werbebegleitung eingeführt. Die gesamten Wirkungen sind unter „Systemverbesserung“ dargestellt: Ein deutlicher Anstieg der ÖPNV-Nutzung um 61 %, aber geringe Wirkungen bei den anderen Verkehrsmitteln.

 

Bildbeschreibung

Zusätzlich wurde aber ein IndiMark für den gesamten Umweltverbund durchgeführt. Die Steigerung der ÖPNV-Nachfrage hat sich dadurch fast verdoppelt (zusätzlich +52 %), aber jetzt zeigen sich auch deutliche Wirkungen bei den anderen Verkehrsmitteln (z. B. Pkw-Fahrer-Anteil um 8 % reduziert). Ergänzend hierzu wurde auch ein sog. „ActiveSmart“-Projekt getestet (siehe „Mit dem Auto ins Fitnessstudio oder zu Fuß zur Haltestelle?“, mobilogisch! 3/14). Dabei geht es darum, die Menschen zu einer aktiveren Lebensgestaltung anzuregen: Mehr Bewegung (Sport, Gartenarbeit etc.); mehr Kontakt zu Freunden/Nachbarn; Mitgliedschaft in Vereinen usw.. Von Verkehrsmittelwahl war dabei aber keine Rede. Dennoch haben sich auch hier ähnliche Wirkungen wie in den vorherigen Projekten ergeben. Und in der Gesamtschau sind die Veränderungen beeindruckend: Das Zufußgehen nimmt um ein Drittel zu, das Fahrradfahren steigt auf mehr als das Doppelte und der ÖPNV auf das Zweieinhalbfache. Und jede fünfte Fahrt mit dem Auto (21 %) wird auf andere Verkehrsmittel verlagert! Aber der Beitrag der hard policy – wenn es auch nur ein Verkehrsmittel betraf – verblasst deutlich.

In Kürze

Wer nachhaltiges Mobilitätsverhalten stärken will, der sollte zunächst die leicht erschließbaren Potentiale durch soft policies gewinnen. Und mit dem Rückenwind dieses Erfolges können dann auch hard policies besser begründet und wirkungsvoll umgesetzt werden.

Quelle:

Werner Brög „Dialog-Marketing mit Dialog“, Der Nahverkehr, 6/2016

 

Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2017, erschienen.

Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik "Zeitschrift - Versand Hefte" bestellen.