Wie hängt die objektive Sicherheit, die sich z. B. (begrenzt) in Unfallstatistiken zeigt, mit der subjektiven, der gefühlten Sicherheit zusammen? Hängen sie überhaupt zusammen? Wie realistisch kann der Mensch ein Risiko einschätzen?

Unfallschwerpunkt Radverkehr

Im Jahr 2013 sammelte der Senat von Berlin über die Website radsicherheit.berlin.de (nicht mehr im Netz) Hinweise von Radler/innen, an welchen Stellen der Stadt sie sich unsicher fühlten. Das Interesse war groß: Mehr als 5.000 Hinweise gingen ein, worauf sich 4.000 Kommentare zusätzlich bezogen. Wie sollte die Berliner Straßenverwaltung damit umgehen? In einer Präsentation für den Radverkehrsbeirat des Berliner Senats wurde das so zusammengefasst: „Subjektive Rückmeldungen sind wichtige Ansatzpunkte für künftige Maßnahmen, gerade in Ergänzung zu den statistischen Unfallschwerpunkten. Wichtig! Klare Kommunikation: Konkrete Maßnahmenschwerpunkte weiterhin prioritär an den objektiven Unfallschwerpunkten orientiert!“

Etwa 40 Prozent der Hinweise bezogen sich auf das Abbiegen. Abbiegeunfälle sind laut Unfallstatistik Berlin tatsächlich die häufigsten Unfälle - die Befragten hatten den richtigen Riecher. Das nennt man Schwarmintelligenz. Die Stellen, an denen die Befragten sich unsicher fühlten, waren jedoch oft nicht die Unfallschwerpunkte auf der Unfallsteckkarte der Polizei.

Die fehlende Deckungsgleiche kann verschiedene Ursachen haben. Eventuell haben sich an der Befragung die „falschen“ Radler/innen beteiligt. Das Ergebnis der Befragung ist nicht repräsentativ. An den Unfallschwerpunkten aus der Statistik sind höchstwahrscheinlich genau die Radler/innen verunglückt, die sich kaum Gedanken um Verkehrssicherheit machen. Wer solche Umfragen beantwortet, ist andererseits vermutlich ein risikobewusster Mensch, der sich an den als unsicher empfundenen Orten vorsichtig verhält und deswegen dort nicht verunglückt.

Gefühlte (Un)Sicherheit bei älteren Leuten

In einer Studie hat der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft GDV auch das Verhältnis zwischen subjektiver und objektiver Sicherheit bei älteren Berlinerinnen und Berlinern untersucht.(1) Demnach fühlte sich mehr als jeder vierte ältere Radfahrer und jede siebte ältere Fußgängerin im Verkehr unsicher beziehungsweise sehr unsicher. Von den älteren Pkw-Fahrer/innen fühlte sich nur jede/r 33. unsicher. Die Antworten wurden mit der Unfallstatistik verglichen, die zeigt, mit welchem Verkehrsmittel Ältere verunglücken. Wenn man davon absieht, dass bei dieser Gegenüberstellung der Modal Split ebenso wenig berücksichtigt wird wie die Zeit, die ältere Leute unterwegs sind, ergab der Vergleich folgendes Bild:

Radfahrer/innen schätzten ihr Unfallrisiko etwas zu hoch, aber immer noch am realistischsten ein. Jede/r elfte Nutzer/in öffentlicher Verkehrsmittel fühlte sich unsicher; tatsächlich gibt es hier jedoch die wenigsten Unfälle - nur jede/r 100. verunglückt mit Bus oder Bahn. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass die Berichterstattung über Gewalttaten in öffentlichen Verkehrsmitteln zum Gefühl beigetragen hat, dass Bus- oder Bahnfahren gefährlich ist.

In der Befragung fühlten sich die Fußgänger/innen nur halb so unsicher, wie sie sich laut Statistik fühlen müssten. Am krassesten war die Fehleinschätzung bei den Autofahrer/innen: Sie schätzten ihr Unfallrisiko um den Faktor 15 zu niedrig ein.

Was lehrte den Unmotorisierten das Fürchten?

Radler/innen nannten zu 75 Prozent das Fahren auf Hauptverkehrsstraßen ohne Radweg oder Radfahrstreifen sowie zu 56 Prozent das Linksabbiegen. Während die Unfallstatistik beim Radeln auf der Fahrbahn keinen Unfallschwerpunkt erkennt, schätzten die Radler/innen das Linksabbiegen völlig realistisch als riskantes Verkehrsmanöver ein.

Zwei von drei Fußgänger/innen fühlen sich unsicher, wenn Radfahrer/innen den Gehweg mitbenutzen, rund die Hälfte hat Angst, eine Kreuzung ohne Ampel zu queren. Fast genauso viele Ältere fühlen sich bei Falschparkern auf Gehwegen unsicher. Während die Befragten bezüglich der Fahrbahnquerung ohne Querungshilfe das Risiko laut Unfallstatistik adäquat einschätzten, konnten zum Problem Radfahrer und Pkw auf Gehwegen keine Daten erhoben werden. Man darf aber annehmen, dass sie das Unfallrisiko überschätzt haben, weil ihnen falsch parkende Fahrzeuge im Weg sind und hautnaher Kontakt mit Radler/innen Angst macht.

Die Hälfte der befragten älteren Fußgänger/innen fühlte sich übrigens beim Queren von Fahrbahnen mit Straßenbahngleisen unsicher. An diesem Beispiel lässt sich gut zeigen, wie Erfahrung das Risikoempfinden beeinflusst. Das Gefühl der Unsicherheit war bei Senior/innen im Westteil Berlins deutlich größer. Im Jahr der Befragung (2010) gab es jedoch praktisch keine Tramstrecke im Westteil der Stadt, während Ostberliner/innen schon jahrelange Erfahrung mit der Tram hatten.

Nichtmotorisierte vermeiden im Allgemeinen folgende Situationen:
- glatte, rutschige Wege
- Dunkelheit
- Strecken mit hohem Lkw-Anteil
- Geh- und Fahrbahnen schlechter Qualität

Während sich die beiden letzten Probleme mit einer anderen Route vermeiden lassen, führen die beiden ersten nicht selten dazu, dass man sich gar nicht erst auf den Weg macht.

Allgemeine Befunde

Drei weitere Befunde der Studie, unabhängig von der Art der Verkehrsteilnahme:

  1. Das Unsicherheitsgefühl steigt mit dem Alter.
  2. Frauen geben deutlich häufiger als Männer an, sich unsicher zu fühlen. Dass sie tatsächlich öfter verunglückten, ist auf Bundesebene für die Altersgruppe 65 Jahre und mehr jedoch nicht belegt: Rund 63 Prozent der Unfallopfer in dieser Altersgruppe waren im Jahr 2016 Männer. Bleiben ältere Frauen vielleicht von vornherein zu Hause und verunglücken deshalb nicht? Es scheint so. Die Studie ergab bei Frauen ein stärkeres „Meidungsverhalten“ als bei Männern.
  3. Das Unsicherheitsgefühl nimmt mit sinkendem Aktivitätsniveau deutlich zu. Hier entsteht ein Teufelskreis : Je seltener man unterwegs ist, desto unsicherer wird man und desto seltener nimmt man am Verkehr teil.

Fazit

Was bedeutet das für die Verkehrssicherheitsarbeit? Wie sollte man mit subjektiven Sicherheitsäußerungen umgehen? Wie sind diese für die objektive Verkehrssicherheit nutzbar zu machen? Kann man subjektive Einschätzungen mit objektiven Erkenntnissen verknüpfen? Wir würden gerne Ihre Meinung und ihre Erkenntnisse erfahren.

Quelle:

(1) Unfallforschung der Versicherer GDV (Hrsg.)/ Emmanuel Bakaba, Jörg Ortlepp: Verbesserung der Verkehrssicherheit älterer Verkehrsteilnehmer, Berlin, 2010. Download unter www.udv.de

 

Dieser Artikel von Stefan Lieb ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2017, erschienen.

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