Die Einbeziehung von Zielgruppen in Planungsprozesse erhöht nicht nur die Akzeptanz seitens der Bürger für kommunale Entscheidungen, sondern liefert auch kommunalen Ansprechpartnern wichtige Hinweise für eine Planung, die sich an den Bedürfnissen der Nutzer ausrichtet. Diesem Gedanken folgend bringt der „Fußgängercheck“ kommunale Planer, Vertreter von Verkehrsunternehmen und von Verbänden in den Dialog mit engagierten älteren Bürgern. Gemeinsam werden vor Ort Mobilitätsbarrieren und Gefahrenstellen ermittelt und Lösungsmöglichkeiten diskutiert.

Mit fortschreitendem Lebensalter verringert sich die durchschnittlich im Laufe eines Tages zurückgelegte Strecke. Dies geht einher mit einer Verschiebung bei der Verkehrsmittelwahl – insbesondere zu Gunsten eines höheren Anteils von Wegen, die zu Fuß bewältigt werden. Deutlich lässt sich daraus ablesen, wie wichtig ein barrierearmes Fußwegenetz für den Erhalt eigenständiger Mobilität im Quartier bis ins hohe Alter ist.

Dies gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass mit den Lebensjahren der Anteil der Personen wächst, die von altersbedingten Erkrankungen der Augen betroffen oder die auf einen Rollator bzw. Rollstuhl angewiesen sind. Für diese Personengruppen sind Barrieren im Fußwegenetz gravierend und werden besonders stark wahrgenommen. Der „Fußgängercheck“ schafft Aufmerksamkeit für die Interessen von älteren Menschen und Menschen mit Mobilitätseinschränkungen und gibt ihnen eine Lobby.

Der Abbau bestehender Verkehrsunsicherheiten und daraus resultierender Mobilitätseinschränkungen ist eine wichtige Voraussetzung für den Erhalt einer eigenständigen und sicheren Mobilität. Die Ausrichtung des Verkehrs an den Fertigkeiten der Menschen ist explizite Forderung des Verkehrssicherheitsprogramms des Landes Nordrhein-Westfalen: „Ablauf und Gestaltung des Verkehrs müssen sich an den Grenzen der Leistungsfähigkeit von Menschen orientieren, die nicht nur individuell variieren, sondern ganz erheblich auch altersspezifisch bestimmt sind.“ (Verkehrssicherheitsprogramm NRW 2004, S. 8).

Experten in eigener Sache

Die Beurteilung der eigenen Leistungsfähigkeit wiederum kann durch niemanden so präzise erfolgen, subjektive Barrieren und Gefahrenstellen durch niemanden so exakt benannt werden, wie durch die „Betroffenen“ selber. Vor diesem Hintergrund werden beim „Fußgängercheck“ ältere und teilweise in ihrer Mobilität eingeschränkte Personen als Experten in eigener Sache wahrgenommen - aus ihrer Perspektive ermitteln sie in eigenständigen Erhebungen und bei gemeinsamen Begehungen mit Vertretern der Kommunalverwaltung wichtige Alltagsziele, die Wegbeziehungen zwischen diesen sowie Barrieren und Gefahrenstellen.

Die Beurteilung des Ist-Zustandes erfolgt dabei direkt vor Ort und Ortskenntnisse der beteiligten Engagierten sowie der kommunalen Vertreter sind eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Projektabwicklung. Die Koordination und Begleitung des Prozesses erfolgt von Seiten der Koordinierungsstelle Mobilitätsmanagement / Verkehrssicherheit beim Verkehrsverbund Rhein-Sieg (VRS), welche das Projekt konzipiert und ins Leben gerufen hat.

Vorerfahrungen sammeln – der Seniorenwegeplan für Gangelt

Erste Projekterfahrungen mit dem Fußgängercheck konnte die VRS-Koordinierungsstelle 2009 und 2010 im Kreis Heinsberg sammeln. In enger Zusammenarbeit zwischen Kommunal- und Kreisverwaltung sowie engagierten Seniorinnen und Senioren wurde hier in der Gemeinde Gangelt ein Seniorenwegeplan erarbeitet, der barrierefreie Routen zu wichtigen Alltagszielen aber auch Problembereiche aus Betroffenensicht aufzeigt. Für diese Bereiche wurden im Dialog Lösungsmöglichkeiten erarbeitet und teilweise konnten Maßnahmen direkt umgesetzt werden. Landrat Stephan Pusch äußerte sich zu Projektende positiv hinsichtlich des Ansatzes, die Bürger als Fachleute für ihre eigenen Belange in Planungsprozesse einzubeziehen und betonte, dass dieses Vorgehen sowohl zeit- als auch ressourcenschonend sei.

Nachahmer gesucht - Wettbewerbsausschreibung

Vor diesem Hintergrund hat die Koordinierungsstelle im vergangenen Jahr mit finanzieller Unterstützung der Eugen-Otto-Butz-Stiftung einen Wettbewerb unter den Mitgliedskommunen des Netzwerkes „Verkehrssichere Städte und Gemeinden im Rheinland“, das von der Koordinierungsstelle betreut wird, ausgelobt. Insgesamt sechs Kommunen wurden im Herbst 2011 im Rahmen einer Jurysitzung zur Durchführung des Fußgängerchecks ausgewählt und werden seitdem durch die Koordinierungsstelle bei der Projektumsetzung begleitet.

Von der Untersuchung vor Ort zur Karte

Versorgung und Aufenthaltsmöglichkeiten werden geprägt durch den Nahbereich. Der „Fußgängercheck“ erfasst detailliert für die Zielgruppe wichtige Alltagsziele in einem abgegrenzten Untersuchungsgebiet, betrachtet die Wegbeziehungen zwischen diesen und benennt die Stärken und Mängel im Wegenetz. Als anschauliches Resultat werden die Ergebnisse in einem Seniorenwegeplan grafisch aufgearbeitet. Der Plan - und der Prozess des Erstellens – erfüllen maßgeblich zwei Ziele:

  1. Er dient als Orientierungshilfe für ältere Menschen, da er Informationen über wichtige Hauptrouten von Seniorinnen und Senioren aufweist sowie Infrastrukturelemente im Straßenraum und (alters)relevante Alltagseinrichtungen wie Einkaufsgelegenheiten, Ärzte, Apotheken, öffentlich nutzbare Toiletten sowie Ausruhgelegenheiten.
  2. Gleichzeitig ist er eine Orientierungshilfe für Planer, da er Hinweise zur Verbesserung der Barrierefreiheit und zu Gefahrenstellen im öffentlichen Raum liefert.

Generationen gemeinsam – die Großelternbefragung

Die Erfassung der in der Karte umgesetzten Ergebnisse erfolgt auf drei verschiedenen Wegen. Einerseits wird eine Großelternbefragung durchgeführt. Der ursprünglichen Projektplanung entsprechend befragen bei dieser qualitativen Erhebungsmethode Schülerinnen und Schüler anhand standardisierter Fragebögen ihre eigenen Großeltern bzw. ältere Menschen aus dem Bekannten- oder Familienkreis hinsichtlich ihres Mobilitätsverhaltens. Die Großelternbefragung dient einerseits dazu, auch einer stillen Mehrheit die Möglichkeit zu geben, ihre Bedürfnisse einzubringen. Darüber hinaus wird auf Schülerseite das Verständnis für die Belange älterer Bevölkerungsgruppen gestärkt.

Die Großelternbefragung wurde in den sechs derzeit in der Umsetzung des „Fußgängerchecks“ befindlichen Kommunen überwiegend in der Art realisiert, dass die Fragebögen über einbezogene Schulen an die Schülerinnen und Schüler weitergegeben wurden. Diese befragten ihrerseits in ihrer Freizeit Angehörige und Bekannte. In Bonn wurde alternativ eine Befragung in der Bad Godesberger Fußgängerzone durchgeführt. Auf diesem Weg konnte eine hohe Zahl von Rückläufen realisiert werden. Überdies wurde das Projekt von Passanten wahrgenommen und somit zusätzliche Öffentlichkeit geschaffen. Die Erfahrungen mit dieser Form der Durchführung wurden positiv bewertet.

Barrieren auf der Spur – die eigenständigen Erhebungen

Für die Erlangung der Datengrundlage zur grafischen Darstellung im Seniorenwegeplan sind mehr noch als die Großelternbefragung eigenständige Erhebungen von engagierten Bürgerinnen und Bürgern bedeutsam. Ausgestattet mit einem Fragebogen und Untersuchungsmaterialien nehmen sie selbständig ihre Alltagswege auf, untersuchen diese hinsichtlich Barrierefreiheit und benennen relevante Einrichtungen unter Berücksichtigung der Erreichbarkeit und Zugänglichkeit.

Offener Dialog – die begleiteten Begehungen

Zentrales Element des Projektes zur Stärkung des Dialoges zwischen engagierten Bürgerinnen und Bürgern sowie den an der Planung und Gestaltung der Verkehrsinfrastruktur beteiligten Akteuren sind die gemeinsamen Begehungen dieser Gruppen. Die Zusammensetzung der Beteiligten bei der Begehung vor Ort variiert zwischen den sechs Kommunen, die derzeit den Fußgängercheck durchführen, und kann sowohl politische Vertreter, Vertreter der Kommunalverwaltung als auch weitere Partner wie Verkehrsunternehmen, die Polizei oder die Verkehrswacht umfassen.

Probleme benennen – Lösungen erarbeiten

Die bisherigen Erfahrungen im Projektverlauf zeigen, dass öffentliche Toiletten sowie das Vorhandensein von Ruhebänken zwei wichtige Aspekte in der Beurteilung der Infrastruktur darstellen. In Kerpen wurden daraufhin durch Mitglieder des Netzwerkes 55plus einerseits Stellen identifiziert, an denen das Aufstellen von Ruhebänken wünschenswert wird. Darüber hinaus wurden in einem Einkaufszentrum durch eine Netzwerkerin gezielt Geschäfte angesprochen mit der Frage nach öffentlich zugänglichen Toiletten und der Bereitschaft über das Aufstellen einer Bank vor dem Geschäft nachzudenken. Die Resonanz seitens der Geschäfte auf die Anfrage ist fast durchgängig als positiv zu beschreiben und stellt ein Beispiel für handlungsorientierte Lösungsvorschläge dar, welche im Projektverlauf erarbeitet werden.

Transparente Entscheidungsprozesse durch Beteiligungsverfahren

Grundsätzlich gilt: Das Einbeziehen der Zielgruppe mobilisiert kommunalspezifisches Know-How der Akteure vor Ort und schafft vertrauensvolle Beteiligungsformen. Der frühzeitige Austausch zwischen Fachleuten, Bürgern und Politik schafft demokratische und transparente Entscheidungsprozesse. Durch das Einbeziehen der Wortführer der Zivilgesellschaft besteht die Chance, dass vorher umstrittene Maßnahmen konsensfähig werden. Es muss Raum für die Argumente der „Betroffenen“ geschaffen werden.

Frühzeitiges Einbeziehen der Betroffenen schafft das Vertrauen der Bürger in die Entscheidungen ihrer Volksvertreter und der Verwaltungen und wirkt so dem Gefühl vieler Menschen entgegen, dass die Entscheidungen nicht mehr im Sinne der Menschen getroffen werden.

In Kürze

Die Partizipationsmethode „Fußgängercheck“ bringt kommunale Planer, Vertreter von Verkehrsunternehmen und von Verbänden in den Dialog mit engagierten älteren Bürgern. Gemeinsam werden vor Ort Mobilitätsbarrieren und Gefahrenstellen ermittelt und Lösungsmöglichkeiten diskutiert. Dieses Vorgehen ist zeit- als auch ressourcenschonend und schafft Akzeptanz bei den Bürger/innen.

 

Dieser Artikel von Mareike Wendel ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2012, erschienen. 

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