Eine entscheidende Minderung des Fahrkomforts, des Sicherheitsgefühls wie auch der objektiven Gefahrenlage wird durch das zu dichte Überholen von Radfahrer/innen durch Kraftfahrzeuge hervorgerufen. Mehr Abstand würde das Rad fahren auf der Fahrbahn deutlich attraktiver und sicherer machen. Bei Gesprächen heißt es jedoch oft: „Auf der Straße mit den Autofahrern? Viel zu gefährlich!“ Auch wenn die Fakten eine andere Sprache sprechen, das subjektive Sicherheitsbedürfnis dieser Radfahrenden muss berücksichtigt werden.

Berücksichtigen bedeutet jedoch nicht automatisch ein Verschlimmbessern von Radwegen auf Gehwegniveau, sondern sollte in Richtung einer Verbesserung der Radfahrbedingungen auf der Fahrbahn gehen. Da sich auf vielen Straßen Radfahrstreifen schlecht markieren lassen (z.B. bei zwei normal breiten Fahrstreifen), muss eine allgemeine Verbesserung der Situation auf allen Innerortsstraßen das Ziel sein.

Die Sicherheitslage

Beim Überholen im Längsverkehr geschehen tatsächlich nur relativ wenige Unfälle (etwa 2 – 6 % der Unfälle, an denen Radler beteiligt sind). Das ist nicht unbedingt das Verdienst der Autofahrer/innen, vielmehr werden ihre Fehler durch Ausweichmanöver der Radler entschärft. Indirekt können solche Überholmanöver jedoch zu so genannten Alleinunfällen von Radler/ innen führen, weil diese in Notsituationen Fahrfehler „begehen“. Allerdings signalisieren auch viele Radler/innen, die sich zwischen stauenden Kfz hindurchschlängeln den Kraftfahrern, dass sie sehr wenig Platz benötigen, manchmal nur eine Lenkerbreite. Dass es physikalisch und psychologisch viel riskanter ist, wenn ein Kfz an einem Radfahrer vorbeifährt als umgekehrt, wird oft nicht realisiert. – Laut Rechtsprechung muss der kfz-Fahrer übrigens sogar auch nur ein Unsicherwerden des überholten Radlers vermeiden!

Wenn die StVO-Regelungen für den mehrspurigen motorisierten Verkehr bei Überholvorgängen zukünftig auch für den Fahrradverkehr gelten, wäre die gleichberechtigte Fahrstreifennutzung anerkannt und eine Rückgewinnung von Raum und Sicherheit für den Fahrradverkehr erreicht.

Die Rechtslage

Zur Zeit befinden sich Radler in einer rechtlichen und räumlichen Zange, die oft eine Risikoquelle selbst bei regelkonformen Verhalten der Autofahrer darstellt. Von rechts werden Radler so behindert:

Paragraph 2 Absatz (2) der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) legt fest, dass „möglichst weit rechts“ gefahren werden muss, insbesondere bei Gegenverkehr, beim überholt werden und bei unübersichtlicher Lage. In Rechtskommentaren wird zusätzlich die Ansicht vertreten, „dass der Abstand vom rechten Fahrbahnrand desto größer sein darf, je schneller ein Fahrzeug im Rahmen des Zulässigen fährt; der Langsamfahrende kann ‚äußerst rechts‘ fahren, dem Schnelleren ist dies nicht ‚möglich‘.” Es ist ihm deshalb unmöglich, weil er sonst auf Gefahren von rechts nicht mehr rechtzeitig reagieren kann. Ein schnell fahrender Autofahrer müsste also auch aus dieser Sicht einen Radfahrer mit Abstand überholen, schließlich stellt dieser eine Gefahr dar.

Der Radfahrer wiederum kann nicht so weit rechts fahren, wie es der Gesetzgeber nur auf den ersten Blick scheinbar meint. Paragraph 14 StVO legt zwar fest, dass Insassen von parkenden Kfz beim Ein- und Aussteigen andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährden dürfen, sie dürfen jedoch zum Orientieren die Wagentür vorsichtig öffnen. Stößt ein Radfahrer gegen eine sich öffnende Tür, kann ihm eine Mitschuld zugesprochen werden. Der vom Bundesverkehrsminister empfohlene Sicherheitsabstand nach rechts von einem Meter wird den Radfahrern von den überholenden Autolenkern häufig nicht zugestanden. Das verschärft sich oft durch Markierungen zwischen Fahr- und Parkspur, da Radfahrern durch dichtes Überholen die Benutzung der Parkspur „nahegelegt“ wird. Bei einem solchen Überholmanöver hat der Radfahrende auch nach links keinen Sicherheitsabstand.

Die Lage auf der Linken

Im Prinzip ist das Überholen in der StVO und durch die einschlägigen Rechtskommentare und Urteile einigermaßen klar geregelt. Der Teufel steckt jedoch im Detail. Im vierten Absatz des Paragraphen 5 StVO werden die Belange der zu überholenden Radfahrer und Fußgänger gewürdigt, in dem ein „ausreichender Sicherheitsabstand“ angemahnt wird. Für diese Forderung wird kein konkretes Maß angegeben, in der Rechtsprechung werden anderthalb bis zwei Meter gefordert. Bei den Urteilsbegründungen sind deutlich Wissenslücken erkennbar.

Schlechte Unfall-Statistiken

Der vorhergehende Satz ist nicht gegen Richter gerichtet. Vielmehr besteht in der Forschung ein Wissensmangel hinsichtlich der Gefährdungen zwischen Rad- und Autofahrern im Längsverkehr. So fehlen allein schon Erkenntnisse über die Ausmaße des Problems. Die Unfallart „Zusammenstoß von Fahrrad und Auto beim Überholvorgang“ könnte zwar als Schnittmenge aus zwei Feldern in den Verkehrsunfallaufnahme-Formularen der Polizei herausgezogen werden, in den Tabellen des Statistischen Bundesamtes wird sie aber nicht aufgeführt.

Überforderung & Unklarheit

Das Ergebnis genauerer Untersuchungen kann natürlich kein Standardmaß von x Metern sein, die Bedingungen sind zu unterschiedlich. Entscheidende Faktoren sind Masse und Tempo des überholenden Kraftfahrzeugs. Des weiteren sind Witterung, Steigung und Linienführung entscheidend. Ferner müssten die Autofahrer auch noch darauf achten, ob der überholte Radfahrer ein unsicheres Kind oder ein älterer Mensch ist, oder ob der Radler sich evtl. in Kürze umsehen könnte, was zu einem Ziehen des Fahrrades nach links führen würde, oder...

Dabei sind den Autofahrern die Verkehrsregeln nicht nur aufgrund deren unklarer Formulierungen wenig hilfreich, die dort verankerte Förderung hoher Geschwindigkeiten konterkariert die Sicherheitsbemühungen. Die vom Gesetzgeber geforderte Bedingung, nur bei klarer Verkehrslage überholen zu dürfen, geht im Regelwerk unter. Diese für alle unzufriedenstellende Situation verlangt nach einer klaren und eingängigen Regelung, zumindest nach einer besseren Vermittlung der bestehenden Regeln.

Standardfehler der Autofahrer

Sicherlich will nur ein kleiner Anteil der Autofahrer Radler bewusst abdrängen, um (Ohn)Machtgefühle auszuleben oder um Radler zu „erziehen“. Mit den obigen Ausführungen soll deutlich werden, dass Autofahrer mit der Beurteilung der Situation verständlicherweise regelmäßig überfordert sind. Den meisten ist einfach nicht bewusst, welche psychischen und physikalischen Auswirkungen ihre Fahrweise zeitigt, wenn sie mit der Masse ihres Fahrzeugs ungeschützte Verkehrsteilnehmer überholen. Aufgrund der unklaren Rechtslage und der jahrelangen Übung begehen Autofahrer bis zu sechs Verstöße gegen die Vorschriften des § 5 StVO (in Klammern Höhe des Bußgeldes/ „Punkte“):

  • Radfahrer gefährden beim Überholen
  • Behindern des Gegenverkehrs (selbst wenn der Radfahrende zu dicht überholt wird) (150 – 250 Euro/ 3-4 Punkte, ggf. 1 Monat Fahrverbot)
  • Überholt wird praktisch immer bei „unklarer Verkehrslage“, denn im Innerortsverkehr kann zu viel plötzlich passieren, um sich zusätzlich noch auf den Überholvorgang konzentrieren zu können. Insbesondere muss der Überholende mit evtl. Ausweichmanövern nach links z.B. wegen parkender Kfz des überholten Radlers rechnen (100 Euro/ 3 Punkte)
  • Behindern der überholten Radfahrer durch zu frühes wieder rechts einordnen („schneiden“), um dem Gegenverkehr auszuweichen (20 Euro) (Innerorts kurios und quasi im Widerspruch zur Sanktionierung des „Schneidens“ ist die Ordnungswidrigkeit „Nach dem Überholen nicht sobald wie möglich wieder nach rechts eingeordnet“ mit 10 Euro Strafe belegt)
  • Ankündigen des Überholens erfolgt nicht „rechtzeitig und deutlich“, im Regelfall gar nicht, da der Autofahrer ja innerhalb der Fahrspur bleibt
  • Überschreiten der Geschwindigkeitsbegrenzung insbesondere in Tempo 30-Straßen, da der Überholende wesentlich schneller als der Überholte fahren muss.

Im Bußgeldkatalog taucht bei den Verstößen im Abschnitt „Überholen“ der Begriff Radfahrer explizit gar nicht auf. Folgerichtig treffen für viele motorisierte Leser des Bußgeldkatalogs die aufgezählten Ordnungswidrigkeiten auf die angesprochenen Situationen nicht zu. Das ist zwar sachlich falsch, denn Fahrräder gelten beim Überhol-Paragraphen als Fahrzeuge wie Autos und müssen auch so überholt werden. Allerdings ist die Sanktionierung des Verstoßes „Beim Überholen ausreichenden Seitenabstand zu einem anderen Verkehrsteilnehmer nicht eingehalten“ mit 30 Euro geradezu lächerlich. Und „mit Sachbeschädigung“ kommen gerade noch fünf Euro drauf. Bei Sachbeschädigung seines Fahrrades wäre der Radler allerdings bereits verletzt. (Daher gibt es auch besondere Sicherheitsabstände beim Überholen von Fußgängern und Radfahrern, s. Abschnitt „Konsequenzen“). Eine rechtliche Klarstellung ist also auch im Interesse der unbewusst gegen die Regeln verstoßenden Autofahrer.

Die Breite eines Radlers

  • In Verkehrsplanungs-Empfehlungen wird die effektive „Fahrbreite“ eines Radfahrers mit etwa einen Meter angegeben, da zur Lenkerbreite unvermeidliche Pendelbewegungen hinzukommen.
  • Zu den parkenden Autos benötigt der Radler laut Gerichtsurteilen eine „Türbreite“ Sicherheitsabstand. Das sind bei Pkw etwa 80 cm, bei Lkw bis 1,5 Meter (wir rechnen ab hier der Einfachheit halber mit einem Meter. Bei der Anlage von Radfahrstreifen wird in der Regel von 0,75 Metern (markiertem) Abstand ausgegangen.
  • Auf der linken Seite muss der überholende Autofahrer je nach Geschwindigkeit 1,5 bis zwei Meter Abstand (ab 90 km/h) einhalten.

Somit ist ein Radfahrer mindestens 3,50 Meter „breit“.

Konsequenzen

Richtliniengemäß betragen die Fahrstreifenbreiten auf innerörtlichen Hauptverkehrsstraßen 2,75 bis 3,75 Meter, abhängig von der Flächenverfügbarkeit und der Belastung mit Bus- und Lkw-Verkehr. Selbst im extremsten Fall („schmaler“ Radler/ breiter Fahrstreifen) ist es offensichtlich, dass bereits heutzutage ein Überholen innerhalb eines Fahrstreifens illegal ist, da Radler plus Sicherheitsabstand dessen gesamte Breite einnehmen.

Es ist schon kurios: Nötig ist eigentlich nur eine Klarstellung ohne die geringste faktische Veränderung des heute gültigen Verkehrsrechts. Radfahrer müssen von Autofahrern wie ihresgleichen überholt werden. Der Schmus mit dem „ausreichenden Sicherheitsabstand“ ist dann beinahe entbehrlich. „Zu jedem Überholvorgang gehört ein Streifen- bzw. bei fehlenden Markierungen ein Richtungsfahrbahnwechsel“, möchte ich als Formulierungsvorschlag in den Ring werfen.

Mir ist klar, dass der Ruf nach Einhaltung der bestehenden Regeln geradezu revolutionär klingen muss. Denn die logische Fortsetzung meiner Formulierung lautet: „Ist ein regelrechtes Überholen nicht möglich (z.B. bei Gegenverkehr), ist davon abzusehen.“ Das kann bei zweistreifigen Straßen in der Praxis zu einem abschnitts- bzw. zeitweisen Überholverbot führen.

Das Strafmaß für Verstöße gegen die Überholregeln sollte im Bußgeldkatalog empfindlich erhöht werden. Gleichzeitig wäre eine gesetzliche Vermutung des vollen Verschuldens der überholenden Person für den zivilrechtlichen Anspruch des Privatbeteiligten - auch bei strafrechtlichem Freispruch - zu verankern; was eine Beweislastumkehr bedeuten würde.

Positionen anderer Verbände

Eine Durchsicht der Planungen und Forderungen von Verbänden und Behörden hinsichtlich dieses Punktes ergibt: Fehlanzeige! Der ADFC hat diese Forderung nie nach außen getragen. Verbänden wie ihm und dem VCD ist das Problem innerhalb der großen Konzepte vielleicht zu „kleinteilig“. Der ADFC-Rechtsexperte schlug in einem Gespräch mit dem Autor vor, eine Vorschrift zu fordern, die besagt, dass der Überholende mit mindestens zwei (von vier) Rädern den Fahrstreifen verlassen muss. Der Vorschlag wirkt pragmatisch und wahrscheinlich würde die Vorschrift, den Fahrstreifen beim Überholen insgesamt zu verlassen, mittelfristig zumindest dieses „Kompromiss-Verhalten“ bewirken. Der Autor dieses Beitrags fragt sich jedoch, ob es taktisch klug ist, lediglich den Kompromiss zu fordern.

Eine weitere, konsequente Folge einer Reform des Überholens wäre die Erlaubnis für Radler/innen zu zweit nebeneinander herzufahren. Und zwar nicht nur, wenn sie „den“ Verkehr nicht behindern. Sondern stets, solange sie - mit einem ausreichenden Sicherheitsabstand untereinander und zu den parkenden Kfz – gemeinsam auf einen Fahrstreifen „passen“.

Auf keinen Fall sollte das Thema jedoch auf den Problemkreis „Gefährdung von Radler/innen“ reduziert werden. Das Thema tangiert auch die Interessen der Fußgänger sehr stark. Trauen sich in Zukunft mehr Radfahrer auf die Fahrbahn, sind die Gehwege freier. Und natürlich geht es beim Radeln auf der Fahrbahn auch um den Fahrkomfort beim und den Spaß am Rad fahren und um den nötigen nächsten Schritt, um noch mehr Radfahrer/ innen zu zeigen, dass Radwege meist nur für die Interessen der Autofahrer gebaut werden. Das Überholen bedarf dringend einer Überholung!

Literatur:

Dietmar Kettler, Recht für Radfahrer, Berlin 2007

www.gesetze-im-internet.de > Gesetze und Verordnungen > „B“ > https://www.gesetze-im-internet.de/bkatv_2013/. Die Bußgeldsätze und Punkte beziehen sich auf den Stand des BkatV, der im April 2012 gültig war. Die geplanten Reformen sind also nicht enthalten.

Fachausschuss Radverkehr ADFC und SRL: Seitlicher Sicherheitsabstand , April 2010, PDF-Download im Hintergrund von www.adfc.de

Dieser Artikel von Stefan Lieb ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2012, erschienen. 

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