Mit einer Kohorten-Analyse kann man zeigen, dass sich gewohnte Mobilitätsmuster verändern. Dabei ergeben sich unterschiedliche Entwicklungen zwischen Frauen und Männern und neue Tendenzen bei den Altersgruppen.

Wie unsere Datengrundlage aussieht

Seit der Wiedervereinigung kennen wir das „System repräsentativer Verkehrsbefragungen (SrV)“. Es ist ein Befragungskonzept, das in der DDR entwickelt und seit 1972 im Fünfjahres-Rhythmus angewendet wurde. Dabei wurden die Erhebungen auf Städte beschränkt; sie sind deshalb auch unter dem Namen „Städtepegel“ bekannt. Socialdata hat dieses Konzept aufgegriffen und auf westdeutsche Städte ausgedehnt. Der Vergleich der Städte in Ost und West, speziell vor und nach der Wende, ist ein wichtiges Dokument über Konstante und Variablen unserer Mobilität (siehe hierzu mobilogisch! 2/15, „Der deutsche Städtepegel: Ein Schatz im Datensee“).

Aber nicht nur das. Der Städtepegel ermöglicht es auch, die Entwicklung der Mobilität im Zeitverlauf zu verfolgen und zu analysieren. Dabei ist es von großem Vorteil, dass alle hier genutzten Daten mit identischem Methoden-Design erhoben wurden. Viele Zeitvergleiche in der Mobilitätsforschung scheitern nämlich daran, dass die verglichenen Datensätze mit unterschiedlichen methodischen Artefakten behaftet sind.

Bei der Analyse der zeitlichen Entwicklung gibt es verschiedene Techniken. Eine dieser Techniken, die wenig bekannt und kaum genutzt ist, ist die „Kohorten-Analyse“. Sie erlaubt mit einfachsten Methoden interessante Einblicke, die bei den gängigen – statistisch oft überfrachteten – Analysetechniken leicht untergehen. Für die hier gezeigte Kohorten-Analyse haben wir einen Zeitraum von zwanzig Jahren gewählt (1995 bis 2014) und dafür die Daten aus ost- und westdeutschen Städten zusammengeführt (Gesamt-Fallzahl ca. 20.000 Personen).

Wie sich Mobilität entwickelt (hat)

Mobilität kann man mit verschiedenen Kennziffern messen (siehe hierzu mobilogisch! 3/15, „Mobilität ist komplex. Und ihre Beschreibung ist es auch.“). Wir beschränken uns hier auf Aktivitäten, Ausgänge und Wege (jeweils pro Person/Tag).

Alle drei verwendeten Kennziffern zeigen einen (leichten) Rückgang. Dieser Rückgang ist am größten bei den Aktivitäten, am wenigsten berührt ist die Zahl der Ausgänge. Vereinfacht: Die Menschen gehen genauso oft aus dem Haus, erledigen dabei aber weniger und verzeichnen in Folge auch weniger Wege. Diese Entwicklung vollzieht sich sehr unterschiedlich bei verschiedenen demografischen Gruppen. Wir zeigen dies beispielhaft an Frauen und Männern. (nächste Seite, linke Spalte)

Dabei verwenden wir einen Index, den wir auch bei späteren Tabellen gut gebrauchen können. Dieser Index bezieht sich auf die in der ersten Tabelle dargestellten jeweiligen Gesamtwerte 1995 (= 100). Damit können wir zunächst sehen, dass 1995 die Männer überduchschnittlich aktiv waren, die Frauen unterdurchschnittlich. Bei 4 % mehr Ausgängen erledigten die Männer 13 % mehr Aktivitäten und benötigten dafür 9 % mehr Wege. Dieses Bild hat sich gründlich geändert: Frauen haben mehr Ausgänge, sie erledigen mehr Aktivitäten und haben mehr Wege als vor zwanzig Jahren und als die Männer heute.

Bei den Männern zeigt sich ein Rückgang der Ausgänge um etwa 4 %, der aber mit einer deutlicheren Reduzierung der Wege und – vor allem – Aktivitäten einhergeht. Die eingangs gezeigte Entwicklung ist also ausschließlich auf die Männer zurückzuführen und wird durch die Frauen sogar noch abgeschwächt.

Wo uns die Kohorten-Analyse hilft

Die Kohorten-Analyse vergleicht Altersgruppen im Zeitverlauf. Dabei müssen die Altersgruppen genauso groß sein, wie der zeitliche Abstand der Basisjahre. Unser zeitlicher Abstand ist zwanzig Jahre, also müssen wir auch Altersgruppen von jeweils zwanzig Jahren bilden. Dies ergibt vier Altersgruppen mit einer „open-end“-Gruppe in der höchsten Altersstufe.

Es zeigt sich für 1995 das gewohnte Bild. Nach Erreichen des Erwachsenen-Alters steigt die Mobilität um etwa 20 % an, bleibt auf diesem Niveau bis vor dem Rentenalter und sinkt dann wieder (um etwa 25 %) ab. Diese Entwicklung beginnt sich jetzt zu ändern. Der Anstieg der Mobilität bei den Gruppen ab zwanzig Jahren ist geringer und der Rückgang der Mobilität im Alter fällt schwächer aus.

Dabei ist eine Betrachtung der einzelnen Altersgruppen lohnenswert. Bei den Unter-Zwanzigjährigen konnte man 1995 erwarten, dass ihre Mobilität in den nächsten zwanzig Jahren um gut 20 % (89 auf 110) ansteigt. Im Jahr 2014 ist diese Altersgruppe 20 - 39 Jahre alt, ihre Mobilität ist aber nur noch um gute 10 % gestiegen (von 89 auf 100). Bei den 20 - 39jährigen 1995 konnte man erwarten, dass sie ihr Mobilitätsniveau bis zum sechzigsten Lebensjahr beibehalten. Es ist aber von 110 auf 106 gefallen. Und wer 1995 zwischen 40 und 60 Jahre alt war, musste damit rechnen, dass seine Mobilität um 25 % (von 110 auf 85) sinkt, tatsächlich ist dieser Rückgang aber weniger stark ausgefallen (auf 92 statt 85). Damit sind die drei Effekte, die man mit einer Kohorten-Analyse darstellen kann, schon angedeutet.

Der „Age-Effect“ zeigt, wie sich die Mobilität im Laufe des Lebensalters entwickelt, der „Cohort-Effect“ zeigt, wie sich die Mobilität jeder Alterskohorte verändert und der „Period-Effect“, der zeigt, wie sich das Mobilitätsniveau im Laufe der Zeit ändert. Vereinfacht erfahren wir durch den „Age-Effect“, welche Entwicklung wir erwarten müssten; durch den „Cohort-Effect“, was wirklich passiert und durch den „Period-Effect“, wie es weitergeht.

Wo der MIV verliert

Wenn wir dieses Konzept auf die Nutzung der Verkehrsmittel anwenden wollen, sollten wir uns zunächst die zeitliche Entwicklung der Verkehrsmittelwahl ansehen.

Wir sehen einen Anstieg der Fahrrad- und ÖPNV-Nutzung und einen Rückgang der Fußwege. Die Pkw-Nutzung erscheint relativ konstant (tatsächlich hat sie bis in den Beginn des neuen Jahrtausends zu- und danach wieder abgenommen).

Die Verkehrsmittel des Umweltverbundes (UV = zu Fuß, Fahrrad, ÖPNV) hatten 1995 einen Anteil von 49 % an allen Wegen, die des motorisierten Individualverkehrs (MIV = Pkw-Fahrer(in) oder -Mitfahrer(in), motorisiertes Zweirad) von 51. Heute (2014) halten UV und MIV 2014 gleiche Anteile (50:50). (s. rechte Spalte)

Dabei ist der Anteil des Umweltverbundes bei den Frauen fast immer höher als bei den Männern. Seine Entwicklung in den verschiedenen Altersgruppen der Frauen ist relativ gleichmäßig: Ein Rückgang mit zunehmendem Alter, wobei die leicht verstärkte UV-Nutzung in der dritten Altersgruppe verschwindet. Bei den Männern geht 1995 die UV-Nutzung zunächst deutlich zurück und steigt dann mit Erreichen des sechzigsten Lebensjahres wieder auf das Niveau der Frauen an.

Wesentlich deutlicher sind die Veränderungen bei der MIV-Nutzung. Frauen nutzen 2014 den MIV bis zum vierzigsten Lebensjahr gleich oder weniger als vor zwanzig Jahren, danach aber deutlich mehr. Männer dagegen sind inzwischen in den „mittleren Jahren“ (20 - 60) erheblich weniger mit dem Auto/Motorrad unterwegs als vor zwanzig Jahren und ihre Nutzungswerte haben sich denen der Frauen fast angeglichen. Nur im höheren Alter ist die MIV-Nutzung bei Männern stärker als früher und fast eineinhalbmal so hoch wie bei den Frauen.

Bei nahezu gleichen MIV-Anteilen im Gesamt zeigen sich also deutliche Unterschiede schon bei einfachen soziodemografischen Untergliederungen: Starke Rückgänge bei Männern und mittleren Altersgruppen (bei Frauen nur bis 40 Jahre), die durch Zuwächse bei „Senioren“ (bei Frauen bereits ab 40 Jahre) wieder kompensiert werden.

Wie die Zahl der Aktivitäten sinkt

Die Verkehrsmittelwahl wird auf Wegebasis berechnet. Die durchschnittliche Zahl der Wege – das haben wir eingangs gesehen – verändert sich zwar, aber nicht so stark, wie die Zahl der Aktivitäten.

Während wir bisher (Beispiel 1995) davon ausgehen konnten, dass die durchschnittliche Zahl der Aktivitäten pro Tag mit Erreichen des Erwachsenen-Alters um ein knappes Drittel ansteigt und im Senioren-Alter um ein gutes Drittel absinkt, müssen wir jetzt mit erheblich flacheren Kurvenverläufen rechnen. Bei geringfügig geringerer Ausgangsbasis im jungen Alter (86 zu 83) liegt die Aktivitäten-Häufigkeit der ersten Kohorte zwanzig Jahre später um 15 % unter dem Erwartungswert (100 statt 115). Danach steigt sie leicht an (107) erreicht aber nicht den Vergleichswert 1995 (112). Und in der letzten Altersstufe kehrt sich die Entwicklung um und der Wert 2014 sinkt nur noch um 16 % auf anstatt um 32 % (auf 91 statt 80).

An dieser Stelle sollte darauf verwiesen werden, dass in der Mobilitätsforschung der Begriff „Aktivitäten“ nur die sog. „aushäusigen“ Aktivitäten umfasst; also Arbeiten, Einkaufen, Oma besuchen etc.. Andere Aktivitäten bleiben davon unberührt. Und man kann annehmen, dass solche andere Aktivitäten, vor allem die, die durch Internet, digitale Medien etc. ausgelöst sind, langsam auch die „klassischen“ Aktivitäten ersetzen.

Was Frauen/ Männer weniger/ mehr machen

Das wird ganz deutlich, wenn wir uns die verschiedenen Aktivitäten genauer ansehen. Ein Vergleich 1995 zu 2014 bringt da zunächst wenig Aufschluss. (s. Spalte rechts oben)

Die durchschnittliche Zahl der Aktivitäten sinkt im Gesamt um 4 % und die Verteilung dieser Aktivitäten ändert sich kaum. Für die detailliertere Analyse fassen wir die Aktivitäten zusammen in Pflicht-Aktivitäten (Arbeit; dienstlich/geschäftlich; Ausbildung). Versorgungs-Aktivitäten (Einkauf; Inanspruchnahme von Dienstleistungen; Begleitung) und Freizeit-Aktivitäten. Diese drei Blöcke umfassen jeweils etwa ein Drittel aller Aktivitäten; ihre Anteile bleiben im Zeitverlauf und im Gesamt nahezu gleich.

Dieses Bild ändert sich, wenn wir soziodemografisch untergliedern. Die Anteile der Pflicht-Aktivitäten bleiben dabei noch weitgehend unverändert. Bei gleichem Ausgangsniveau steigen sie in den mittleren Altersgruppen an und sinken dann deutlich ab, bei Männern jeweils stärker als bei den Frauen. (s. folgende Seite)Bei den Versorgungs-Aktivitäten haben die Frauen, schon in jungen Jahren höhere Anteile. Erst im höheren Alter werden sie von den Männern überholt. Allerdings entwickeln sich die Anteile bei den Frauen auch nach zwanzig Jahren noch nahezu gleich (mit einer leichten Zunahme im höheren Alter). Dagegen gibt es bei den Männern bei niedrigerem Ausgangsniveau deutliche Rückgänge in den mittleren Altersgruppen, die erst ab 60 Jahren wieder ausge-

glichen und sogar übertroffen werden. Diese Veränderungen führen dazu, dass sich die Zahl der Versorgungs-Aktivitäten bei Männern über zwanzig nicht mehr verdoppelt (17 zu 32) sondern nur noch vereineinhalbfacht (17 zu 24) und damit nur wenig mehr als die Hälfte der vergleichbaren Frauengruppe (41) erreicht.

Ähnliche Entwicklungen zeigen sich auch bei den Freizeit-Aktivitäten. Bei einem leichten Rückgang im Gesamt bleibt der Wert bei den Männern zwischen zwanzig und vierzig um ein Drittel unter dem Erwartungswert (27 statt 42) und erholt sich erst in der letzten Altersklasse. Dagegen bleiben die Frauen bis zum vierzigsten Lebensjahr hinter den zwanzig Jahre vorher gemessenen Werten, wenn auch weniger deutlich. Aber bereits die vierzig- bis sechzigjährigen Frauen übertreffen 1995 und damit auch die vergleichbaren Werte bei den Männern. Und alle Senioren verzeichnen heute etwa 10 % mehr Freizeit-Aktivitäten als vor zwanzig Jahren.

Was das für die Zukunft bedeutet

Bisher waren wir daran gewöhnt, dass die Zahl der Aktivitäten, der Ausgänge und der Wege nahezu konstant war und sich nur wenig und im „Gleichschritt“ ändert. Diese Vorstellung ist nicht mehr zeitgemäß. Wir waren es auch gewohnt, dass Männer bei allen Mobilitätskennziffern höhere Werte erreichen als Frauen. Auch das muss in Frage gestellt werden. Wir waren uns auch sicher, dass die Mobilität mit zunehmendem Alter ansteigt und dann wieder sinkt. Das wird wohl so bleiben wenn auch in abgeschwächter und sehr differenzierter Form. Und schließlich waren wir überzeugt, dass Autofahren mehr Männer- als Frauen-Sache ist und seinen Nutzungshöhepunkt in der Lebensmitte erreicht. Aber auch diese Überzeugung ist inzwischen von zahlreichen Unsicherheiten behaftet.

Dafür bleibt uns die Gewissheit, dass es heute noch wichtiger ist als früher, die Mobilität und ihre Entwicklung sorgfältig zu messen und differenziert zu analysieren. Wenn man sich dann ansieht, wie derzeit in unserem Land große Mengen an Mobilitätsdaten gesammelt werden ohne valides Methodengerüst, dann kann einem schon ein bisschen mulmig werden.

In Kürze

Das Mobilitätsverhalten in unseren Städten lässt sich durch wenige Variablen gut beschreiben. Diese Variablen signalisieren auch relative Konstanz im Gesamt. Geht man jedoch weiter ins Detail, so zeigen sich erhebliche Veränderungen, die sich oft gegenseitig ausgleichen und bei aggregierten Betrachtungen nur schwer erkennbar sind. Alles deutet darauf hin, dass sich diese Differenzierung eher fortsetzen wird und deshalb genau betrachtet werden muss.

 

Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 2/2016, erschienen. 

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