In der Fußgängerstadt Wien fand im Oktober 2016 die Walk 21 Vienna statt. Doch trotz eines ausladenden Programmes war für notwendige Diskussionen um die Messung und Analyse des Verhaltens der Fußgänger(innen) zu wenig Platz.

Walk 21 Vienna

Soeben ist die Walk 21 Vienna zu Ende gegangen. Es war die neunte Ausgabe einer internationalen Konferenz-Reihe, die sich dem Thema Zu-Fuß-Gehen widmet. In ihrem Rahmen entstand eine bemerkenswerte Initiative. Der Schweizer Daniel Sauter hat mit vier weiteren Kollegen aus Belgien, England und Kanada (Tim Pharoah, Miles Tight, Ryan Martinson, Martin Wedderburn) einen „International Walking Data Standard“ zum „Treatment of Walking in Travel Surveys“ erstellt (www.measuring- walking.org). Dafür haben sie sich fünf Jahre Zeit genommen und sehr gründlich gearbeitet. Der Standard lag rechtzeitig zur Wiener Konferenz vor, klar gegliedert, verständlich formuliert und gut lesbar aufbereitet. Er befasst sich mit einem Thema, das von grundsätzlicher Bedeutung ist für jede(n), der/die sich für das Mobilitätsgeschehen interessiert. Denn ohne saubere Daten über das Verhalten der Menschen sind fundierte Analysen oder Planungen schwer vorstellbar. Und ganz besonders beim Zu-Fuß-Gehen, dem einzigen Verkehrsmittel das jeder nutzt, sind die Datengrundlagen eher dürftig.

Sie, liebe Leser, werden jetzt denken, dass dieser Standard an geeigneter Stelle im Konferenz-Programm präsentiert wurde. Da kennen Sie die Walk-Konferenz aber schlecht. Es gibt/gab ein ausuferndes Programm mit schwachen Präsentationen, es gab eine langatmige Eröffnungsveranstaltung mit Talk-Show-Charakter, aber für die Erhebung der Daten – die ja die Menschen repräsentieren – war keine Zeit. Lediglich ein Workshop im Vorprogramm der Konferenz konnte den Veranstaltern abgerungen werden.

Vor diesem Hintergrund können Sie sich bereits vorstellen, wie es einer Auswertung ergangen ist, die wir speziell für diese Konferenz, mit aktuellen Daten zu Wien und besserer Erfassung des Fuß-Verkehrs (inkl. Fuß-Etappen und Warte-Etappen) gemacht haben. Ihre Präsentation hat es auch nur ins Vorprogramm geschafft.

So geht Wien

Dabei wollten wir zeigen, wie detailliert man mit gängigen Erhebungsverfahren die tägliche Mobilität auf Etappenbasis erfassen kann. Zugrunde liegen zwei Datenquellen. Eine Erhebung für das Austrian Institute of Technology (AIT) im Jahre 2012, bei der alle Personen eines Haushalts und ihr Mobilitätsverhalten für sieben Tage auf Etappenbasis erfasst wurden. Diese Erhebung war sehr erfolgreich (Antwortquote 69 %) aber auch aufwändig. Deshalb war die Stichprobe relativ klein (210 Personen). Die zweite Quelle war die kontinuierliche Erhebung der Mobilität der Wiener(innen) von 1993 bis 2009. Diese Erhebungen erfassten alle Tage eines Jahres, wurden jährlich fortgeschrieben und zu einem Gesamt-Bestand von knapp 24.000 Personen verschmolzen. Die in der ersten Erhebung ermittelten Kennwerte für Etappen wurden dann in die zweite Erhebung eingespielt und die Mobilitätsdaten auf das Jahr 2015 fortgeschrieben.

Verkehrsmittel-Nutzung

Ein Weg besteht fast immer aus mehreren Etappen. Dabei werden in der Regel auch mehrere Verkehrsmittel genutzt. Für viele Auswertungen ist es aber nötig, pro Weg ein Verkehrsmittel zu bestimmen, das sog. „hauptsächlich genutzte Verkehrsmittel (HVM)“. Hierzu wird am häufigsten eine Verkehrsmittel-Hierarchie benutzt, bei der in der Regel der öffentliche Verkehr „oben“ und der Fuß-Verkehr „unten“ steht. Mit anderen Worten: Wann immer ein ÖV auf einer Etappe benutzt wurde, ist es ein ÖV-Weg. Fußwege sind dagegen nur Wege, bei denen es keine Etappen mit anderen Verkehrsmitteln gibt. Da wir alle wissen, dass sehr viele Verkehrsmittel nur in Verbindung mit Fußwegen genutzt werden können, wird deutlich, dass das Zu-Fuß-Gehen der große Verlierer bei der Bestimmung des HVM ist. Wie groß dieser „Verlust“ ist, möch­ten wir an einem besonders geeigneten Beispiel zeigen: Der Mobilität der Wiener(innen).

In unserem fortgeschriebenen Datenbestand für 2015 legen die Wiener(innen) über ein Drittel (38 %) aller Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück. An zweiter Stelle folgt das Zu-Fuß-Gehen (28 %) und erst an dritter der Pkw-Fahrer (21 %). Diese Dominanz des öffentlichen Verkehrs begründet das Image Wiens als ÖV-Stadt. Da wir aber wissen, dass der ÖV nicht ohne Fußgänger funktioniert, müssen wir dieses Image bereits jetzt revidieren. Denn beide Verkehrsmittel decken bereits zwei Drittel aller Wege ab, Wege also, die ohne die eigenen Füße nicht möglich wären.

Wenn man sich jetzt alle Verkehrsmittel ansieht, die bei einem Weg (einmal oder mehrmals) benutzt werden, ergibt sich eine Summe von 180 %. Es werden also pro Weg 1,8 Verkehrsmittel genutzt. Und bei neun von zehn Wegen ist mindestens eine Fuß-Etappe dabei. Wien ist also sicher eine ÖV-Stadt, vor allem aber eine Stadt der Fußgänger.

Mit den 1,8 Verkehrsmitteln werden in Wien 3,0 Etappen pro Weg zurückgelegt (in der Tabelle: 300 %). Und es zeigt sich, dass wir im Schnitt pro Weg mit zwei Fuß-Etappen rechnen können. Aus 28 % Fußwegen (HVM) werden 90 % Wege mit Fuß-Etappen und zwei Fuß-Etappen pro Weg. Dabei sind Etappen auf Privatgrund nicht berücksichtigt (traditionell werden bei Mobilitäts-Erhebungen nur Wege auf öffentlichem Boden erfasst); mit ihnen wäre die Dominanz der Fuß-Etappen noch stärker.

Man kann diese Werte aber auch so darstellen, dass die Summe der HVM, der genutzten Verkehrsmittel und der Etappen immer hundert ergibt. Dann zeigt sich, was wir aus der vorherigen Tabelle schon indirekt ablesen können: Ein gutes Viertel (28 %) aller Wege sind Fußwege nach HVM, die Hälfte aller Verkehrsmittel sind „Zu Fuß“ und zwei Drittel aller Etappen werden zu Fuß zurückgelegt.

Interessant ist hier aber auch die zeitliche Entwicklung dieser Kennziffern. Nach gängiger Lesart (HVM) ist in Wien der öffentliche Verkehr stark angestiegen, ausschließlich zu Lasten des motorisierten Individualverkehrs (MIV). Dagegen blieb der Anteil der (reinen) Fußwege über zwanzig Jahre konstant. Die Zuwächse im ÖPNV sind allerdings (relativ) am größten bei der Betrachtung des HVM und am geringsten auf Etappenbasis. Beim Pkw-Fahrer ist es genau umgekehrt. Das wäre auch so, wenn wir den MIV gesamt betrachten würden (mobilogisch! Leser wissen allerdings, dass wir es für einen ebenso großen wie häufigen Fehler halten, nur den MIV auszuweisen und nicht nach Pkw-Fahrer und -Mitfahrer zu unterscheiden).

Etappen

Schon 1993 ergab sich für Wien ein Spitzenwert mit 7,3 Etappen pro Person und Tag; bis 2015 ist dieser Wert nochmal um ein Siebtel gestiegen (8,3). Um ein besseres Gefühl für diese Etappen zu bekommen, müssen wir die Wege nach HVM und den jeweiligen Wege-Etappen untergliedern. Dabei zeigen sich auch ganz ungewöhnliche Kombinationen, die nur sehr selten vorkommen und in der Tabelle mit 0,00 ausgewiesen sind.

Die geringste Anzahl an Etappen pro Weg finden wir beim Fahrrad (1,08), die höchste beim ÖPNV (5,80!). Der motorisierte Individualverkehr liegt durchwegs im Bereich von 1,6 Etappen pro Weg. Dabei handelt es sich fast immer um Fuß-Etappen. Nur beim ÖPNV werden auch 1,64 öffentliche Verkehrsmittel im Schnitt auf einem Weg miteinander verknüpft. Dem stehen aber (bei einem durchschnittlichen ÖPNV-Weg!) etwa vier Fuß-Etappen gegenüber.

Für diese Wege-Etappen kann man auch die jeweils zurückgelegte Entfernung oder die entsprechende Dauer hinterlegen. Dabei kann man unterscheiden zwischen der Entfernung/ Dauer für das jeweilige HVM und für die dazugehörigen Fuß-Etappen. Für diese Auswertung haben wir die gesamte Mobilität pro Person und Tag zugrunde gelegt.

Für den Durchschnitt aller Personentage zeigt sich ein gewohntes Bild: Die täglich zurückgelegte Entfernung wird zum weitaus größten Teil mit dem HVM bewältigt; Fuß-Etappen umfassen nur knapp 6 % (1,1 von 19,3 km). Allerdings übersteigen sie in ihrer Summe bereits die Entfernung, die mit „reinen“ Fußwegen erreicht wird (0,8 km) um über ein Drittel. Oder anders: Die über HVM ermittelte Fuß-Entfernung muss mehr als verdoppelt werden, um die tatsächliche Verkehrsleistung mit den eigenen Füßen zu ermitteln. Und: Die in ÖPNV-Etappen zurückgelegte Fuß-Entfernung ist bereits so hoch (oder höher) als die des HVM Zu Fuß.

Ein deutlich akzentuierteres Bild ergibt sich bei einer Aufgliederung der Wege-Dauern, wobei wir hier die Warte-Etappen (im ÖPNV) noch zusätzlich ausgewiesen haben. Im HVM ist die Dauer pro Person und Tag fast gleich bei Zu Fuß und Pkw-Fahrer (12 und 13 Minuten) und beim ÖPNV am höchsten (17 Minuten). Allerdings summieren sich die Fuß-Etappen zu insgesamt 17 Minuten (alleine im ÖPNV 14 Minuten) und erreichen damit fast den eineinhalbfachen Wert der reinen Fußwege. Beim ÖPNV kommen nochmal fünf Minuten Wartezeit dazu. Damit beträgt die reine Fahrzeit (17 Minuten) noch nicht einmal die Hälfte der gesamten Reisezeit (36 Minuten).

 

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Das „versteckte“ Zu-Fuß-Gehen

Traditionelle Mobilitäts-Analysen auf Basis des HVM haben ihren Sinn und sind nicht verzichtbar. Aber man sollte immer im Kopf haben, dass dabei - ­wie bei jeder Standardisierung - wichtige Informationen verloren gehen.

In unserem Beispiel für Wien sind das pro Person und Tag 1,1 Kilometer der täglich zurückgelegten Entfernung (6 % von 19,3; bei anderen Verkehrsmitteln zugeordnet). Und die tägliche Unterwegszeit (72 Minuten) gliedert sich in 50 Minuten mit einem HVM (davon 12 Minuten zu Fuß als HVM), 17 Minuten für Fuß-Etappen (davon 14 Minuten im Zusammenhang mit dem ÖPNV) und 5 Minuten Warte-Etappen (ebenfalls ÖPNV).

Der praktische Nutzen solcher detaillierter Daten wird sofort deutlich, wenn wir uns mit einem Thema befassen, das in den letzten Jahren große Bedeutung gewonnen hat: Körperliche Bewegung (physical activity). Da ist inzwischen weitgehend akzeptiert, dass wir uns im Schnitt 30 Minuten am Tag bewegen sollten. Dass man dieses Ziel am einfachsten über die Alltagsmobilität erreicht, wurde in der klassischen Verkehrsplanung lange nicht erkannt. Das ist inzwischen in vielen Städten anders, so auch in Wien.

 

Addiert man nun die Dauer aller Rad-Wege, Fuß-Wege und Fuß-Etappen (sog. „Active Modes“) dann ergibt sich für Wien über alle Personen (allen Alters) und alle Tage bereits heute ein Durchschnittswert von 32 Minuten; bei denen die, die das Haus verlassen („mobile Personen“) sogar 39 Minuten.

Differenziert man diesen Wert nach Verkehrsmittel-Partizipations-Gruppen (also nach Personen, die an einem durchschnittlichen Tag mindestens ein Mal das jeweilige Verkehrsmittel als HVM nutzen), so zeigt sich, dass Fußgänger (innen) und Radfahrer(innen) die 30 Minuten-Marke deutlich überschreiten. Nutzer des motorisierten Individualverkehrs liegen dagegen durchwegs darunter. Aber die Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel erreichen auch Werte, die mit 49 Minuten das tägliche „Soll“ um fast zwei Drittel übertreffen: Wer den ÖPNV nutzt, lebt gesünder.

„Why survey data?“

In dem genannten Workshop auf der Walk 21 Vienna, aber auch in den Gesprächen rund um die Konferenz ist immer wieder eine Frage gestellt worden, die ich aus vierzigjähriger Arbeit mit empirischer Mobilitätsforschung gut kenne: „Wozu braucht man das eigentlich?“

Hierfür bietet Wien ein vorzügliches Beispiel. Dazu müssen wir uns erinnern an den zu Beginn der neunziger Jahre erarbeiteten Master-Plan in Wien, in dem ein Konzept zur Eindämmung des motorisierten Individualverkehrs und zur Förderung seiner Alternativen angelegt wurde. Dabei wurde erkannt, dass infrastrukturelle Maßnahmen alleine nicht ausreichen würden, sondern dass auch die Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit eine wichtige Rolle spielt und einbezogen werden muss. Und es wurde erkannt, dass „Öffentlichkeit“ nicht nur die Bürgerinnen und Bürger meint, sondern alle Institutionen (wie z. B. Politik, Medien, Verwaltung, Interessengruppen, Initiativen etc.). Diese Erkenntnis resultierte in einem Auftrag an Socialdata zur Erarbeitung und Umsetzung eines „Public-Awareness (PAW)-Konzeptes“. Dieses PAW-Konzept hat Verhalten, Einstellungen, Potentiale für die erhofften Veränderungen ermittelt und mit diesen empirischen Daten ein Konzept der sog. „soft policies“ entwickelt und umgesetzt. Eine wichtige Erkenntnis war, dass die Stimmung in der Öffentlichkeit gegenüber dem gewollten Konzept positiver als erwartet ist und dass Verhaltensänderungen in die gewünschte Richtung leichter möglich sind, als vermutet. Auch auf freiwilliger Basis und ohne umfängliche infrastrukturelle Maßnahmen.

Dieses Konzept traf auf eine relativ geschlossene, gute vernetzte Planer-Szene in Wien. Sie hatten Daten und Ansichten, die von unseren oft abwichen. Als „Höhepunkt“ der dadurch ausgelösten Konflikte wurde in der für die Verkehrsplanung zuständigen Magistratsabteilung ein Flugblatt über unsere Ergebnisse verteilt, das mit „Rattenfänger unterwegs“ betitelt war.

Heute weiß man, wie erfolgreich Wien auf dem Weg zu einer verträglichen Mobilität ist. Dazu bedurfte es vieler guter Planungs- und Infrastrukturprojekte. Aber eben auch das Mitwirken der gesamten Öffentlichkeit. Und aus der zuständigen Magistrats-Abteilung ist zu hören, dass die Planung jetzt einfacher geworden ist, weil viele Menschen ihr Verhalten auch freiwillig ändern. Die Frage: „Why survey data?“ ist damit beantwortet: Empirische Daten repräsentieren das Leben und sind für Planungen, die sich an den Menschen orientieren wollen, unverzichtbar.

Werner Brög

In Kürze

Ohne das Zu-Fuß-Gehen gibt es keine Alltagsmobilität. Das wird besonders deutlich in einer Stadt wie Wien, in der konsequent Alternativen zum Autoverkehr gefördert werden. Allerdings braucht es eine verfeinerte Methodik, um das Zu-Fuß-Gehen auch empirisch angemessen abbilden zu können. Eine Diskussion dieser Methodik wird selten geführt und liegt leider nicht im Interessenspektrum einschlägiger Foren.

Quellen:

Socialdata, Institut für Verkehrs- und Infrastrukturforschung GmbH:

- Mobilitätserhebung 2012 im Auftrag von Austrian Institute of Technology

- Kontinuierliche Marktanalyse für die Wiener Linien 2009 im Auftrag der Wiener Linien

 

Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2015, erschienen. 

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