In vielen Untersuchungen wird das Verhalten über vereinfachte und nicht validierte Häufigkeits-Skalen gemessen. Dieses Vorgehen ist mutig und sehr gefährlich.

Mobilität messen

Es gibt verschiedene Wege, die Alltagsmobilität empirisch zu messen und verschiedene Kennziffern, sie zu beschreiben. Die Messungen werden am häufigsten in tagebuch-ähnlicher Form durchgeführt. Dabei werden die Wege erfasst, die die Menschen zurücklegen. Die hie­raus resultierenden Kennziffern sind wegebezogen. Dies gilt für die Mobilitätsforschung. In der Markt- und Meinungsforschung ist das anders. Dort bildet man in der Regel personenbezogene Kennziffern und misst das Verhalten über Häufigkeiten (z. B. Wie oft kaufen Sie Produkt xy? Täglich, mehrmals pro Woche etc.).

Auch in der Mobilitätsforschung gibt es Versuche, die Mobilität über solch (verbale) Häufigkeiten zu erfassen. Um hieraus zu wegebezogenen Aussagen zu kommen, muss man die erfragten Häufigkeiten zunächst auf Personenebene quantifizieren. Die passende Kennziffer hierzu ist die „Partizipation“. Diese Kennziffer gibt an, welcher (%-) Anteil der Befragten beispielsweise ein bestimmtes Verkehrsmittel an einem durchschnittlichen Tag nutzt. (Ein Partizipationswert von 50 % würde bedeuten, dass dieses Verkehrsmittel an jedem zweiten Tag genutzt wird.)

Socialdata hat bei großen Stichproben die Mobilität über Tagebücher erfasst. Bei nachfolgenden vertiefenden (mündlichen) Interviews wurden oft zusätzlich Häufigkeits-Skalen eingesetzt. Damit kann für dieselben Personen ermittelt werden, wie sie sich verhalten und welche Häufigkeiten sie bei einer verbalen Abfrage angeben. Dieser Vergleich basiert auf knapp 30.000 Personen in Städten aus acht Ländern.

Häufigkeiten ermitteln

Einen ersten wichtigen Eindruck dieser Auswertungen gewinnt man, wenn man die gemessenen Häufigkeiten für alle Länder und die drei untersuchten Verkehrsmittel (Fahrrad, ÖPNV und Pkw-Fahrer) zusammenfasst und hierfür die jeweilige Partizipation bestimmt.

Es zeigt sich, dass „(fast) täglich“ nicht (fast) täglich bedeutet, sondern nur an jedem zweiten Tag. (Von den Befragten, die angaben, ihr Verkehrsmittel täglich oder fast täglich zu nutzen, haben das nur 50 % an den vorgegebenen Stichtagen tatsächlich gemacht.) Auch bei der Angabe „an 2-3 Tagen“ ist die tatsächliche Häufigkeit geringer (2-3 Tage = ca. 35 %). Dagegen sind die danach folgenden Angaben alle – z.T. deutlich – zu hoch. Es ist also nicht möglich, eine verbale Abfrage der Nutzungshäufigkeiten direkt in Verhaltenskennziffern umzusetzen. Das wird noch deutlicher, wenn wir uns die drei Verkehrsmittel getrennt ansehen:

Die Partizipationswerte sind bei jeder Häufigkeit am geringsten beim Fahrrad und am höchsten beim Pkw-Fahrer. Und die Unterschiede sind erheblich. (Die Partizipation für „etwa 1x im Monat“ ist beispielsweise beim Pkw-Fahrer fünfmal und beim ÖPNV dreimal so hoch wie beim Fahrrad, obwohl diese Werte eigentlich gleich sein müssten.) Diese Befunde müssen uns beunruhigen. Sie wären aber zu verschmerzen, wenn die Unterschiede dieser Angaben in allen Ländern und bei allen Bevölker

ungsgruppen relativ gleich wären. Dann könnte man sie mit Korrekturfaktoren ausgleichen.

Nationale Unterschiede erkennen

Aber so ist es nicht. In den folgenden Tabellen haben wir unsere Daten nach Ländern aufgegliedert. In fünf von diesen Ländern sind mehrere Städte in die Berechnung eingeflossen. In drei Ländern haben wir nur eine spezifische Stadt ausgewählt. Jetzt sehen wir, dass sich die Partizipationswerte je Land unterscheiden und ein bisschen die jeweilige „Mobilitäts-Kultur“ widerspiegeln.

Beim Fahrrad zeigen sich die höchsten Partizipationswerte für „(fast) täglich“ in Den Haag und Basel. Das korreliert mit der Fahrrad-Nutzung (hoch) in diesen beiden Städten. Ebenso wie die relativ niederen Werte in Wien und den USA und die vergleichsweise durchschnittlichen Angaben in Deutschland.

Dagegen sind die Werte für den ÖPNV in Basel und in Wien tendenziell am höchsten. Dieser Befund passt zu dem Vorherigen (hier: hohe ÖPNV-Nutzung in Basel und Wien). Offensichtlich hat die tatsächliche Häufigkeit der Nutzung Einfluss darauf, welche Häufigkeiten verbal angegeben werden. Dies trifft aber wiederum nicht zu für UK und Australien. Weder das Fahrrad noch der ÖPNV werden in beiden Ländern überdurchschnittlich häufig genutzt; dennoch liegen die verbalen Häufigkeiten im oberen Bereich.

 

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Ein etwas ausgeglicheneres Bild ergibt sich bei einer Auswertung nach Pkw-Fahrer. Hier sollte angemerkt werden, dass in vielen mobilitätsorientierten Analysen nicht unterschieden wird nach Pkw-Fahrer und -Mitfahrer. In diesem Fall wäre die Abfrage von Häufigkeiten erheblich eingeschränkt und würde zu noch unplausibleren Ergebnissen führen.

Generell bestätigt sich der Befund aus den beiden Auswertungen davor: In den Ländern mit der höchsten Nutzung dieses Verkehrsmittels (USA, Australien) sind auch die Partizipationswerte bei den Häufigkeits-Angaben sehr hoch oder gar am höchsten. Und die Briten (UK) fallen – wie bei Fahrrad und ÖPNV – wieder durch relativ hohe Angaben auf. Dagegen hat die geringe Pkw-Nutzung in Wien und Basel keine sehr großen Auswirkungen auf die Häufigkeits-Einschätzungen.

In allen Gebieten zeigt sich aber, dass überall Vorsicht geboten ist. Wörtlich genommen müsste sich bei „(fast) täglich“ eine Partizipation von 90 % ergeben, die gemessenen Werte liegen aber zwischen 49 und 68 %. Und es zeigen sich im Gegensatz zu dieser Unterschätzung erhebliche Überschätzungen bei den Kategorien mit geringer Häufigkeit. An „2-4 Tagen pro Monat“ würde wörtlich genommen einen Partizipationswert von etwa 10 % ergeben; die gemessenen Werte liegen zwischen 13 und 30 %. „Etwa 1x im Monat“ wären etwa 3 % Partizipation; wir finden aber Werte zwischen 7 und 22 % (letzterer ist etwa siebenmal zu hoch).

Stadt und Land unterscheiden

Die bisherigen Auswertungen bezogen sich alle auf Bewohner(innen) von Städten in den jeweiligen Ländern. Man kann aber die Frage stellen, ob die Einschätzung in den ländlichen Regionen von denen in den Städten abweichen. Der größte Teil der Socialdata-Erhebungen wurde zwar in Städten durchgeführt, aber es gibt auch gelegentlich Daten zu weniger urbanisierten Räumen. Besonders geeignet ist hier der Raum Wien, denn dort wurde mehr als zehn Jahre lang eine kontinuierliche Mobilitätsbefragung in Wien und auch in den beiden angrenzenden Bundesländern Burgenland und Niederösterreich durchgeführt. Diese Erhebungen umfassten viele kleine Gemeinden, die weit über die jeweiligen Bundesländer gestreut waren.

Da in allen Fällen die Mobilitätserhebungen um vertiefende Befragungen (mit Häufigkeits-Skala) ergänzt wurden, kann eine vergleichende Auswertung durchgeführt werden.

Diese Auswertung zeigt größere Übereinstimmungen als die Auswertungen nach den acht Ländern. Und sie zeigt auch ähnliche Tendenzen. In den beiden an Wien angrenzenden Bundesländern sind sowohl die Fahrrad-Anteile wie auch die Anteile der Pkw-Fahrer (z.T. deutlich) höher als in Wien. Dementsprechend sind auch die Partizipationswerte nach Häufigkeits-Angabe in Burgenland/Niederösterreich durchwegs höher beim Fahrrad und (fast durchwegs) höher beim Pkw-Fahrer. Wer in den Bundesländern angibt, an „2-4 Tagen pro Monat“ als Pkw-Fahrer unterwegs zu sein, fährt sein Auto an 28 % aller Tage; in Wien liegt dieser Wert noch immer zu hoch (Sollwert ca. 10 %), aber „nur“ noch bei 16 %.

Dagegen sind die Einschätzungen der ÖPNV-Nutzung auch mit den bisher gewonnenen Erkenntnissen nicht zu erklären. Sie liegen in den drei ersten Kategorien nahe beieinander. Das ist erfreulich, denn eine verbal genannte Häufigkeit sollte ja unabhängig von der generellen Verkehrsmittelnutzung sein. Aber bei der Kategorie „etwa 1x im Monat“ gibt es zwar überhöhte Werte bei Wien (wie wir sie schon kennen), aber eine zweieinhalbmal höhere Partizipation in Burgenland/Niederösterreich und damit einen Wert, der nur in Basel und Schweden noch überboten wird.

Soziodemografie beachten

Nachdem sich bereits große Unterschiede bei den Häufigkeits-Einschätzungen nach Verkehrsmitteln und nach Land gezeigt haben, muss geprüft werden, ob es auch Unterschiede in der Einschätzung nach Soziodemografie gibt. Wir konzentrieren diese Auswertung – exemplarisch – auf eine Untergliederung nach Frauen/Männer (nur deutsche Städte).

Bereits bei dieser einfachen soziodemografischen Unterscheidung ergeben sich – z.T. deutliche – Abweichungen zwischen den beiden Gruppen. Diese Abweichungen sind erstaunlich einheitlich und folgen immer einer Tendenz: Alle Werte bei Fahrrad und Pkw-Fahrer sind höher bei den Männern im Vergleich zu den Frauen. Alle Werte beim ÖPNV sind höher bei den Frauen im Vergleich zu den Männern (dies spiegelt die Nutzung dieser Verkehrsmittel wider).

Wenn man diese Auswertungen nach soziodemografischen Merkmalen weiter führt, zeigt sich durchgehend, dass der demografische Status einer Person auch Einfluss auf die Häufigkeits-Einschätzungen hat. Oder umgekehrt: Die Ergebnisse verschiedener soziodemografischer Gruppen sind nicht direkt miteinander vergleichbar.

Wetter nicht vergessen

Unsere Mobilität und unsere dazugehörigen Einschätzungen werden aber nicht nur bestimmt durch unsere Soziodemografie und die Stadt, in der wir leben, sondern auch durch das jeweilige Wetter. Um diesen Effekt zu zeigen, haben wir unterschieden nach Winter (Oktober bis März) oder Sommer (April bis September).

Das Ergebnis zeigt, dass es auch einen Unterschied macht, in welcher Jahreszeit die jeweilige Erhebung durchgeführt wurde. Und die Abweichungen zwischen Winter und Sommer sind nicht unerheblich.

Auch hier zeigen sich einheitliche Tendenzen, die mit der Nutzung dieser Verkehrsmittel zu tun haben: Im Sommer wird mehr Fahrrad gefahren und die Partizipationswerte sind in allen Kategorien auch höher. Gleichzeitig wird der ÖPNV im Sommer weniger genutzt und die korrespondierenden Partizipationswerte sind in allen Kategorien niedriger. Nur beim Pkw-Fahrer-Anteil (der im Sommer höher ist als im Winter) findet sich diese Tendenz nur schwach wieder und nicht eindeutig.

Skala bilden

Aus den bisher gezeigten Ausführungen wird deutlich, dass es nicht möglich ist, verbale Häufigkeits-Abfragen direkt in Verhaltenskennziffern zu überführen. Und doch gibt es einen Ausweg. Dieser Ausweg heißt Skalen-Technik. Bei einer wissenschaftlich gebildeten Häufigkeits-Skala würden für jeden Skalen-Punkt die korrespondierenden Verhaltenskennwerte empirisch ermittelt. So, wie wir es in den vorliegenden Auswertungen – am Beispiel der Partizipation – auch gemacht haben. In der folgenden Tabelle ist das am Beispiel der Fahrrad-Nutzung für unseren Bestand über alle acht Länder erläutert.

Insgesamt haben 15 % aller Befragten angegeben, dass sie das Fahrrad „(fast) täglich“ nutzen. Tatsächlich haben aber diese 15 % das Fahrrad nur an jedem dritten Tag benutzt (34 % Partizipation). Dabei haben diese Fahrrad-Nutzer 2,83 Wege pro Tag mit dem Fahrrad zurückgelegt. Wenn man diese Werte miteinander multipliziert, ergeben sich insgesamt 0,14 Fahrrad-Wege pro Person/ Tag. Wiederholt man diesen Rechengang für alle Häufigkeits-Gruppen und addiert die jeweiligen Wege-Häufigkeiten, dann erhält man am Ende einen Wert von 0,19 Fahrrad-Wegen. Dieser Wert entspricht genau der Fahrrad-Nutzung aus den „echten“ Mobilitätserhebungen.

In weiteren Erhebungen kann man also das Verhalten verbal abfragen und für jede Häufigkeits-Gruppe die ermittelten Wege-Anzahlen einsetzen. Diese Rechnung könnte auch ergänzt werden um Dauer und Entfernung. Das wäre dann eine klassische Verhaltens-Skala, mit der eine gute Annäherung an die tatsächlichen Verhaltenswerte erreicht werden kann. Allerdings ist das nur möglich, wenn die bisher gewonnenen Erkenntnisse berücksichtigt werden (unterschiedliche Werte je Partizipationsgruppe und Wege-Häufigkeit für Regionen, Personengruppen, Verkehrsmittel, Jahreszeiten etc.) und in regelmäßigen Abständen überprüft wird, ob die verwendeten Verhaltenskennziffern je Häufigkeits-Gruppe noch stimmen. Wer das nicht macht, spielt mit dem Feuer.

In Kürze

Verbale Häufigkeits-Abfragen des Verhaltens sind beliebt und weit verbreitet. Bei der Alltagsmobilität stoßen sie aber schnell an ihre Grenzen. Von einem unkritischen Einsatz dieser Methodik muss daher abgeraten werden.

 

Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2016, erschienen. 

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