Die Arbeitsgruppe eint die Überzeugung, dass die Sicherstellung von Zugänglichkeit und Barrierefreiheit für alle Bevölkerungsgruppen im öffentlichen Raum und Gebäuden eine der zentralen Herausforderungen für den Stadtverkehr der Zukunft darstellt und diese Aufgabe nur in gemeinsamen Anstrengungen von Politik, Verwaltung und Planung zu bewältigen ist. Dazu braucht es einen koordinierten Rahmen, der systematisch die Anforderungen aller Nutzer/innengruppen berücksichtigt und eine Umsetzung und Anwendung von Normen und Richtlinien sicherstellt.

Barrierefreiheit als interdisziplinäre Herausforderung

Ziel der Arbeitsgruppe ist die Erarbeitung eines Anforderungskataloges an ein praxistaugliches Qualitätsmanagementsystem (QMS). Gemeinsam mit Moderatorin Katalin Saary (Verkehrs­planerin, SRL) diskutieren Teilnehmende aus den verschiedensten Bereichen dieses Problem­feld. Die unterschiedlichen fachlichen und persönlichen Erfahrungen bringen vielfältige Perspektiven in die Arbeit ein – einige leben selbst seit Jahren mit körperlichen Einschränkungen, andere haben ihren Hintergrund in der Stadtplanung, Verkehrsplanung, Raumplanung oder Architektur oder arbeiten professionell mit körperlich Behinderten.

Für wen brauchen wir Barrierefreiheit?

Der Einstieg in das Thema sind drei Input-Referate: Torsten Belter (TU Dresden/ TU München) steigt in das Thema ein mit der Frage: Für wen brauchen wir Barrierefreiheit? Kernthese ist, dass Barrierefreiheit eine selbstbestimmte Nutzung des öffentlichen Raums und der Verkehrsteilhabe ermöglicht. Dabei skizziert er verschiedene Ebenen einer ganzheitlichen Betrachtungsweise: Die Mikro-Ebene bezieht sich auf Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und Verkehr, die Meso-Ebene auf nachhaltige Verkehrsarten in Bezug auf Infrastruktur und Servicequalität und die Makro-Ebene auf die geographische Erreichbarkeit.

Typische Personengruppen, die besonders auf Barrierefreiheit angewiesen sind, sind zum Beispiel geh-, seh- und andere mobilitätseingeschränkte Menschen. Circa ein Drittel der Bevölkerung gilt als mobilitätseingeschränkt (zum Beispiel Kinder, Kranke, alte Menschen, Eltern, Personen mit Gepäck, Tourist/innen...). Dieser Anteil wird regelmäßig unterschätzt, wenn nur mit den rund sieben Prozent anerkannten Schwerbehinderten gerechnet wird! Damit wer­den durch eine fehlende Zugänglichkeit ganze Personengruppen von bestimmten Aktivitäten und gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen.

Ganz konkret: Für geheingeschränkte Personen stellen insbesondere Niveauunterschiede wie Bordsteinkanten, Hügel oder steile Rampen sowie unebene Oberflächen im Straßenraum und öffentlichen Verkehr Hindernisse dar. Darüber hinaus spielen auch die Ausstattung im Fahrzeug, Sicherheitsaspekte und der Zugang zu Informationen und Fahrkarten (sowohl am Schalter/Automaten als auch vorab im Internet) eine wichtige Rolle. Notwendig sind außerdem (Mobilitäts-) Trainings nicht nur für Kund/innen, sondern auch für das Fahrpersonal. Im Vergleich dazu haben seheingeschränkte Personen besonders mit kontrastarmen Markierungen an Treppenstufen, fehlender visueller und taktiler Führung an Kreuzungen und falscher Beleuchtung zu kämpfen. Weitere Probleme bestehen in der Fahrzeugausstattung öffentlicher Verkehrsmittel, den verwendeten Schriftgrößen und dem Zugang zu Informationen, wie z.B. dem Fahrplan.

Bestimmten Personengruppen kann durch den Abbau spezifischer Hindernisse geholfen werden. An anderen Stellen ergeben sich Konflikte durch einander entgegengesetzte Bedürfnisse. (Zum Beispiel sind Klappsitze gut für Reisende mit Fahrrad, aber schlecht für Seheingeschränk­te.) Torsten Belter macht an diesen Beispielen deutlich, dass nicht nur physische Hindernisse, sondern auch organisatorische Barrieren, Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen sowie subjektive Sicherheitsbedenken und objektive Sicherheitsrisiken zu Behinderungen führen können. Er fordert, die gesamte Reise­kette zu betrachten, an alle Gruppen mobilitätseingeschränkter Menschen und ihre verschiedenen Bedürfnisse zu denken und sowohl harte als auch weiche Maßnahmen einzusetzen.

Barrieren im Stadtquartier überwinden

Genau an diesem Punkt setzt Mone Böcker an, die im Hamburger Büro raum + prozess arbeitet und schwerpunktmäßig in kooperativen Planungsprozessen, u.a. im Rahmen von Mobilitätskonzepten, und im Quartiersmanagement arbeitet. Mone Böcker hat ein Modellvorhaben zur Gestaltung von Stadtquartieren für Jung und Alt begleitet und stellt die zentralen Ergebnisse des Sondergutachtens „Barrierefreie Stadtquartiere” vor, dass das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung in Auftrag gegeben hat. In diesem Zusammenhang verweist sie auf die Broschüre des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung „Barrieren in Stadtquartieren überwinden” die in einer ansprechenden Darstellung mit vielen Fotos und O-Tönen einer großen Bandbreite von Menschen mit ihren Bedürfnissen Raum gibt. (1)

Mone Böckers Ausgangsthese ist, dass das Problem nicht vorrangig darin liegt, dass Leitfäden zur Barrierefreiheit fehlen, sondern dass Barrierefreiheit noch immer ein „Minderheiten­thema” darstellt, mit dem sich nur wenige identifizieren. Ihre Forderung: Raus aus der Nische und rein in den Planungsalltag! Als vorbildlich hebt sie die Plakatkampagne des Bundesministeriums für Arbeit und Sozia­les „Behindern ist heilbar” hervor.

Mone Böcker weist wie schon Torsten Belter auf einen vorsichtigen Umgang mit dem Begriff „barrierefrei” hin, da es sich dabei um einen berechtigten Anspruch aller Menschen handelt, dieser aber in der Praxis nie komplett erfüllt werden kann und die Aushandlung von Konflikten nötig macht. Außerdem stellt sie die Frage, welche Barrieren eigentlich zu beseitigen sind. (So gibt es auch bewusst eingerichtete Barrieren wie zum Beispiel ein Zaun um einen Kinderspielplatz).

Die meisten Veränderungen zur Erreichung von Barrierefreiheit werden heute im Bestand vorgenommen, was einen großen Kostenaufwand bedeutet. Aus diesem Grund muss Barrierefreiheit als selbstverständliche Alltagsaufgabe angesehen, die Teil jeder Neuplanung ist. Hierbei müssen anders als beim Ansatz des Universal Design auch mentale, soziale und räumliche Barrieren in den Blick genommen werden (Informationen, Kommunikation, finanzielle Ressourcen, zeitliche Festlegungen, Nutzungskonflikte, gesetzliche Vorschriften u.a.).

Auf der Betrachtungsebene des Stadtquartiers gelingt es besonders Menschen (Ältere, Kinder, Jugendliche )vor Ort zu erreichen. Ergänzend ist eine Schnittstelle zur gesamtstädtischen Ebene notwendig, um keine „Insellösungen”, sondern ein System von Barrierefreiheit aufzubauen.

Nach einer Identifizierung lokaler Barrieren, können im zweiten Schritt Quartierskonzepte mit Zielvorstellungen und eine Priorisierung aufgestellt werden, um dann den Abbau von Barrieren zu organisieren. Begleitend wird über die Maßnahmen informiert und über Beteiligung der Betroffenen Akzeptanz erreicht. Beispielhafte Ansätze (s. (1)) sind die Stralsunder Zielnetzplanung und das Projekt „Nette Toilette”. Die historische Altstadt Stralsunds steht zu großen Teilen unter Denkmalschutz und ist durch schmale Gässchen und Kopfsteinpflaster geprägt. Um zumindest die wichtigsten Orte und Einrichtungen in der Altstadt besser erreichbar zu machen, wurde ein Zielnetz erstellt, zu dem 152, sukzessiv umzusetzende Einzelmaßnahmen gehören. Auch bei der „netten Toilette” geht es um den öffentlichen Raum: Teilnehmende Gastronom/innen stellen auch für Nicht-Gäste barrierefreie Toiletten zur Verfügung, hierauf wird mit einem lizensierten Logo gut sichtbar hingewiesen.

Der Fußgängercheck

Katja Naefe hat ihre berufliche Heimat beim Verkehrsverbund Rhein-Sieg in der Abteilung Mobilitätsmanagement. Thema des Inputs ist das Projekt „Fußgängercheck”, das seit Herbst 2011 läuft. Das Netzwerk „Verkehrssichere Städte und Gemeinden im Rheinland” unterstützt im Rahmen eines Projektes die Städte Kerpen, Brühl und Herzogenrath, der Kreis Düren sowie das Seniorennetzwerk Köln Höhenhaus und der Bonner Arbeitskreis „Sicher unterwegs – ein Leben lang” mit Beratungsleis­tungen und eine Förderung in Höhe von je 4.000 Euro für kleine Maßnahmen. Ziele des Fußgängerchecks sind die Förderung der selb­stständigen Mobilität von Senior/innen sowie die Erhöhung ihrer aktiven und passiven Sicher­heit. (2) Durch Einbeziehung des Wissen der Senioren/innen wird der Dialog zwischen Verwaltung, Politik und Zielgruppe verbessert. Damit ist der Fußgängercheck letztendlich eine Methode, einen Prozess in der Kommune zu initiieren, die Zielgruppe (besser) zu beteiligen. Er kann natürlich auch für andere Gruppen wie Kinder, Jugendliche, Mobilitätseingeschränkte gleichermaßen angewendet werden.

Für die Kommunen hat diese Methode u.a. den Vorteil, dass das Vertrauen in die kommunale Planung gestärkt wird. Konkret werden kostengünstige Infrastrukturdaten erfasst und durch die Beseitigung von Schwachstellen im Fußwegenetz die Verkehrssicherheit verbessert. Den Kern bildet die Projektgruppe bzw. der Lenkungskreis, der aus Verwaltungsmitarbeiter/ innen besteht und für die Konzeption verantwortlich ist. Die Projektgruppe ist dafür zuständig, die Akteure zu akquirieren, die Begehungen durchzuführen, die Ergebnisse auszuwerten und schlussendlich einen Maßnahmenkatalog aufzustellen.

Zu den wichtigsten Bausteinen gehört die begleitete Begehung, die in allen beteiligten Kom­munen durchgeführt wird. Hier sind sowohl Senior/innen als auch Fachleute aus Politik und Verwaltung dabei, untersuchen Gefahrenpunkte im Verkehrsraum, nehmen die Verkehrsinfrastruktur auf, analysieren die Zugänglichkeit von Institutionen sowie Haltestellen und erfassen die Hauptrouten. Die Erkenntnisse daraus werden präzise protokolliert und führen zu der Festlegung von Maßnahmen und Zuständigkeiten. Einen weiteren Baustein bilden die eigenständigen Erhebungen durch die Senior/innen.

Ergebnis des Fußgängerchecks können ein Maßnahmenkatalog, ein Seniorenwegeplan oder auch eine Informationsbroschüre sein. Katja Naefe schildert, dass durch diesen Prozess innerhalb der Verwaltung ein neues Bewusstsein für Barrierefreiheit geschaffen werden kann und die rege Presseberichterstattung zu Interessensbekundungen weiterer Kommunen geführt hat.

“Expertenblick von innen” - Fazit Teil 1

Theoretische Ansätze schaffen oft nicht den Schritt in die Praxis – und dafür gibt es viele verschiedene Gründe, die sowohl „weiche”, aber auch „harte” Faktoren sein können. Für die Workshop-Teilnehmenden zählen dazu unter anderem mentale Barrieren bei Planenden und Mitarbeiter/ innen zum Beispiel im öffentlichen Verkehr, die mit Unwissenheit einhergehen und häufig dadurch zustande kommen, dass Einschränkungen für viele nicht erlebbar sind. Daraus mag an manchen Stellen die Auffassung entstehen, bei Barrierefreiheit handele es sich um ein Luxusproblem, die Aufstellung von Maximalforderungen kann hier den Effekt haben, die Vorbehalte noch zu stärken. Kurz: Barrierefreiheit hat (nicht nur) bei der Verwaltung ein Image-Problem!

Weitere Gründe bestehen in der eher untergeordnete Rolle des Themas in der Ausbildung von Planenden, ÖPNV-Personal, sowie den finanziellen Aspekten wie den Kosten bei baulichen Veränderungen. Wirtschaftliche Interessen stellen auch im Einzelhandel oft ein Hindernis dar, wenn Ladeninhaber/innen sich zum Beispiel weigern, auf die gefährlichen „Kundenstopper” zu verzichten. Weitere Probleme sind Konflikte mit Gestaltungsansprüchen, Denkmal- und Naturschutz-Auflagen sowie der begrenzt vorhandene Raum. Im Planungsprozess werden diese verschiedenen Interessen gegeneinander abgewogen, was unter Umständen auch zu einer Einschränkung der Barrierefreiheit führen kann.

In Kürze

In der Arbeitsgruppe des BUVKO sollte ein Anforderungskatalog an ein praxistaugliches Qualitätsmanagementsystem erarbeitet werden. Im ersten Teil des Berichts werden nach der Klärung, für wen Barrierefreiheit wichtig ist das Sondergutachten „Barrierefreie Stadtquar­tiere” sowie eine partizipative Methode, der Fußgänger-Check, vorgestellt. Abschließend werden Barrieren in der Praxis für Umsetzungen identifiziert.

Quellen/ Info:

  • Der Fußgängercheck ist eine Methode, die für alle Zielgruppen angewendet werden kann. In den verschiedenen Kommunen wurde damit unterschiedlich umgegangen. So wurden z.B. in Bonn auch die Behindertenverbände stark mit einbezogen. Siehe auch mobilogisch! 3/2012

    Das Qualitätsmanagementsystem ISEMOA

    Der Auftakt kommt wiederum von Torsten Belter, der das europäische Qualitätsmanagementsystem ISEMOA vorstellt (ISEMOA = Improving seamless energy-efficient mobility chains for all). Der Auffassung folgend, dass Barrierefreiheit ein wichtiger Bestandteil der sozialen Ebene von Nachhaltigkeit ist und die Erfüllung der Mobilitätsbedürfnisse die Grundlage für die Sicherstellung von Unabhängigkeit und Integration darstellt, folgt ISEMOA einem ganzheitlichen Ansatz. Das System hat zum Ziel, Gemeinden, Städte und Regionen bei der Analyse des Status Quo und bei der Aufstellung eines Maßnahmenkatalogs zu unterstützen. Dabei werden im Idealfall alle Arten von mobilitäts­eingeschränkten Personen berücksichtigt (was in der Praxis noch sehr herausfordernd ist). Hierbei können Probleme bei der Bündelung und Vertretung von Interessen auftreten. Zu dem ganzheitlichen Ansatz gehört auch, die komplette Tür-zu-Tür-Mobilitätskette mit nachhaltigen Verkehrsmitteln zu betrachten und alle Arten von Barrieren ins Auge zu fassen.

    Bei ISEMOA handelt es sich um ein Qualitätsmanagementsystem, eine anerkannte Methode der Prozessoptimierung, die häufig in der Wirtschaft Anwendung findet und der so auch von offiziellen Stellen eine gewisse Anerkennung beigemessen wird. Sie dient dazu, Stärken und Schwächen der Arbeit an Barrierefreiheit und Erreichbarkeit zu erkennen, regt zu einer systematischen, effektiven und ganzheitlichen Betrachtung an und bietet eine Orientierungshilfe bei der Erstellung eines Aktionsplans. Auf welche Bereiche sollte der Schwerpunkt der Arbeit an Barrierefreiheit gelegt werden, um eigene Ziele und gesetzliche Vorschriften zu erfüllen. Außerdem liefert sie neue Inspirationen und Ideen durch die vorhandene Datenbank mit guten Beispielen aus anderen Regionen.

    ISEMOA wurde bereits in 18 europäischen Gemeinden, Städten und Regionen erfolgreich implementiert und geht auf eine Methodik zurück, die sich bereits in anderen Bereichen bewährt hat (z.B. BYPAD beim Radverkehr, MaxQ beim Mobilitätsmanagement und MEDIATE im Kontext von barrierefreiem öffentlichen Verkehr). In Deutschland diente die Sächsische Schweiz als Pilotregion. Prinzipiell kann die Methode unabhängig von der Größe der Kommune angewendet werden, allerdings gibt es zwei leicht unterschiedliche Systeme für Städte und Regionen.

    Torsten Belter veranschaulicht die Methode anhand der Darstellung eines Qualitätskreislaufs, der aus fünf Komponenten und 16 Elementen besteht. Insgesamt sollte der Prozess vor der Rahmenplanung angesiedelt werden. Die erste Komponente bilden die Voraussetzungen: Welche Basis-Informationen sind vorhanden? Wer arbeitet mit diesen Informationen? Für wen sind sie verfügbar? Welche rechtlichen Rahmenbedingungen sind zu beachten? etc. Bei der zwei­ten Komponente kommen Richtlinien und Grundsätze ins Spiel: Welche Leitlinien hat die Region sich gesetzt? Welche Partnerschaften existieren? Wie steht es um die Finanzen? Bei der dritten Komponente geht es um strategische Fragen: Wie sieht der Maßnahmenplan aus? Welche konkreten Ziele sieht er vor? Um welchen Zeithorizont geht es? Welche Stabstellen sind für die Ausführung verantwortlich? Die vorletzte Komponente nimmt schließlich die Umsetzung in den Blick: Wie weit ist die Kommune bereits? Gibt es Insellösungen oder eine strategische Umsetzung? Wer ist aktiv bzw. sollte aktiv sein?

    Bei den meisten Kommunen kommt die letzte Komponente, die des Monitoring/der Evaluierung zu kurz, obwohl sie eine entscheidende Funktion für die Qualität des Prozesses hat. Hier stehen Fragen nach der Bewertung des Umgesetzten und nach einer möglicherweise notwendigen Nachsteuerung im Vordergrund. Dieser letzte Punkt sollte bei der Budget-Planung von Anfang an mit eingeplant werden (beispielsweise mit einem Anteil von 15%).

    Die Qualität der Arbeit an Barrierefreiheit und Erreichbarkeit entwickelt sich in Phasen und die Regionen werden entsprechend ihres Fortschritts in eine „Entwicklungsleiter” eingeordnet. Diese reicht von Stufe 0 (keinerlei Maßnahmen zur Verbesserung von Barrierefreiheit und Erreichbarkeit) bis zur Stufe 5 (Total Quality Management). Kern des ISEMOA-Ansatzes ist ein moderierter Audit-Prozess, bei dem ein Auditor/eine Auditorin gemeinsam mit lokalen Akteuren wie Behinderten-Verbänden oder Tourismus-Verbänden die Stärken und Schwächen bewertet. Bei einem Einführungstreffen werden über Einzelfragebögen verschiedene Sichtweisen zur aktuellen Qualität der Arbeit an Barrierefreiheit gesammelt, die bei dem darauffolgenden Dialog-Treffen zusammengetragen werden, um ein gemeinsames Verständnis zu erreichen. Hier liegt das Augenmerk besonders auf der Bandbreite der Bewertungen und eventuellen „Ausreißern”.

    Bei dem abschließenden Strategie-Treffen werden schlussendlich ein Maßnahmenplan erstellt und Verantwortlichkeiten geklärt. Bei der Maßnahmenumsetzung folgt meist kein großer Planungsdurchlauf wie beispielsweise der Umbau eines Bahnhofs, sondern leicht umzusetzende Maßnahmen, wie die Aufstellung eines „Haltestellenatlanten” im ländlichen Umfeld, der unter anderem festhält, welche Zugangsstellen beim ÖPNV barrierefrei sind und wo Hochflur- und Niederflurfahrzeuge eingesetzt werden. Optional ist es möglich, eine Vor-Ort-Besichti­gung von positiven Beispielen zu unternehmen, um die Motivation und das Problembewusstsein zu stärken. Wenn auch Vertreter/innen der Politik daran teilnehmen, kann einer solchen Aktion ein größerer Stellenwert gegeben werden und auch das Interesse der Presse wecken, die daraufhin möglicherweise auch später am Fortgang des Prozesses interessiert bleibt.

    Torsten Belter betont, dass es nicht das Ziel der Methode ist, eine Grundlage für einen Vergleich mit anderen Gemeinden, Regionen oder Städte zu schaffen und das dies auch nicht möglich ist da die Einschätzungen – trotz aller Versuche der Objektivität – weiter stark von subjektiven Sichtweisen abhängen. „Angenehme Nebeneffekte” des Prozesses sind, dass bei den Akteuren eine Bewusstseinsbildung angestoßen wird und wichtige Kommunikationskanäle zwischen den lokalen Akteuren gebildet werden, die gegenseitig ihre Blickwinkel kennen und verstehen lernen. Ein offener Kommunikationsprozess ist laut Torsten Belter das wichtigste am ganzen System.

    Verbesserungsbedarf sieht er unter anderem darin, dass die Ergebnisse bisher noch keine politische Verbindlichkeit haben. Eine Schwierigkeit stellt weiterhin dar, dass maximal 20 Personen in den Prozess eingebunden werden können. Sollen jedoch alle wichtigen Akteure Teil des Prozesses sein, kommen sehr viel mehr zusammen. Auch der Ansatz, das QMS in Großstädten auf Ebene der einzelnen Stadtteile einzusetzen, löst dieses Problem nicht, da viele Probleme nur gesamtstädtisch erkennbar sind, zum Beispiel wenn es um das Verkehrssystem geht. Problematisch ist außerdem, dass bis zu einem gewissen Grad das „Recht der Stärkeren” gilt. So hängt es unter anderem stark von der Zeit der Veranstaltungen ab, welche Personengruppen an den Treffen teilnehmen, was sich entscheidend auf die Repräsentativität auswirkt. Es besteht das Risiko, dass wer nicht da ist, auch nicht berücksichtigt wird.

    Ist Barrierefreiheit messbar?

    Der zweite Input des Tages kommt von Peter Zeile, der sich mit der Frage auseinandersetzt, ob und wie Barrierefreiheit messbar ist. Sein Ansatz ist dabei die Messung von Barrieren in verschiedenen Feldern durch das Mittel der emotionalen Kartierung. (Der Ansatz ist ursprünglich an Methoden aus der Marktforschung angelehnt, wo untersucht wird, wie Proband/innen auf bestimmte Bilder reagieren.) Dazu gibt es bereits verschiedene Versuche wie zum Beispiel ein Kunstprojekt aus England, das sich mit Biomapping beschäftigt und über die Hautleitfähigkeit der Menschen misst, wo sie in der Stadt stärker und wo weniger erregt sind. Hier ist allerdings noch nicht die Qualität der Aktivierung messbar, es wird also nicht deutlich, ob sie positiv oder negativ erregt sind.

    Einen Schritt weiter geht das Projekt von Peter Zeile, dass einen „Lügendetektor in der Stadt” entwickelt hat. Über ein am Handgelenk befestigtes Smartband können über die Temperatur und die Hautleitfähigkeit eindeutig negative Emotionen identifiziert werden. Kalter Angstschweiß weist zum Beispiel auf Stress hin. Dies kann mit Kameras, GPS-Geräten, Smartphones oder weiteren Sensoren kombiniert werden. Der Einsatz von Kameras und die Vergrößerung der Zahl der Versuchspersonen können dazu beitragen, externe Faktoren für den Stress auszuschließen. Insgesamt hat das Verfahren einen schnellen Durchlauf und dauert von der Konzeption bis zur Auswertung nur eine Woche.

    In der bei Kaiserslautern gelegenen kleinen Gemeinde Kirchheimbolanden, in der rund 8.000 Menschen leben und es eine hohe Dichte an „Senior/innen-Residenzen” gibt, ist das Thema der Barrierefreiheit sehr präsent. Hier wurde mit Unterstützung der Behindertenbeauftragten ein Experiment zum Emotionalen Barriere-GIS (kurz EmBaGIS) durchgeführt, um die Planung auf Barrierefreiheit zu überprüfen. Als Untersuchungsraum wurde eine Strecke von ca. 715 Metern ausgewählt, die auf einer stark touristisch genutzten Route in Kirchheimbolanden liegt und von vier Proband/innen begangen/befahren wurde.

    Die Auswahl der Proband/innen spielt eine wichtige Rolle für das Ergebnis. In diesem Fall konnte der Kontakt über die Behindertenbeauftragte hergestellt werden. Neben einer nicht eingeschränkten Kontrollprobandin waren ein sehbehinderter Mensch, eine E-Rollstuhlfahrerin und eine Mutter mit Kinderwagen dabei, deren Stressempfindungen gemessen und zugleich verortet wurden. Das Abfilmen der Proband/ innen diente dazu, exakt die Stress auslösenden Situationen im Untersuchungsraum zu bestimmen. Neben der Identifikation punktueller, emotionaler Barrieren wie das Fehlen eines Leitsystems wurden neuralgische Punkte bestimmt, an denen sich die Gefährdungen konzentrieren und für die konkrete Optimierungsvorschläge erarbeitet wurden. Der Bürgermeister von Kirchheimbolanden hat die Ergebnisse der Studie zur Kenntnis genommen und die identifizierten Barrieren anerkannt.

    Momentan befindet sich die Methode noch im experimentellen Stadium und wird stetig weiterentwickelt. „Baustellen” sind bisher noch der große notwendige Zeitaufwand, die Auswertung per Hand, die fehlende Automatisierung der Videoaufnahmen und dass die Methode nur bei relativ kurzen Wegen angewendet werden kann. Darüber hinaus sollen Handy-Apps entwickelt werden, um einzelne Punkte zu markieren und zu bewerten und so „heat maps” mit neuralgischen Punkten zu erstellen. In der Arbeitsgruppe kommt die Anregung auf beim Stresstest in „real life” gute und schlechte Hilfsmittel bei dem Parcours miteinander zu vergleiche, um deren Qualität zu prüfen.

    Verknüpfung der Bausteine

    Die Diskussion macht deutlich, dass alle vorgestellten Projekte und Verfahren (inklusive derer des ersten Teils in der vorherigen Ausgabe) eine Art „Bausteinsystem” bilden können.

    Eine Basis für die gesamtstädtische Ebene könnte das durch Bürgerbeteiligung ergänzte Qualitätsmanagementsystem ISEMOA darstellen, durch das Kommunen ihre Status Quo-Situation definierter Fragestellungen wie hier der Barrierefreiheit wie auch Potentiale zukünftiger Entwicklungen grundsätzlich klären können. Beim Zoomen auf Quartiersebene kommen dann Methoden wie der Fußgängercheck zum Einsatz. Am Beispiel der emotionalen Messung von Barrieren wird deutlich, dass manche Methoden einen hohen Personalaufwand und dadurch hohe Kosten mit sich bringen und dementsprechend im Einzelfall die Praktikabilität geprüft werden muss bzw. die Anwendung nur in kleinem Umfang stattfinden kann.

    Durch Partizipation kann dabei eine deutliche stärkere Akzeptanz geschaffen werden, konfliktreiche Entscheidungen leichter getroffen werden können und eine qualitativ hochwertige Planung zwar Geld kostet, sich aber langfristig bezahlt macht.

    Darüber hinaus stellt Barrierefreiheit insbesondere angesichts des demografischen Wandels einen Wettbewerbsvorteil für die Kommunen dar, die für (potentielle) Einwohner/innen und Tourist/innen attraktiver werden wollen. Dies sollten sich gerade die jüngeren Planerinnen und Planer bewusst machen, da sie letztendlich für sich selber planen.

    Regelwerke und Umsetzung

    Es gibt bereits viele gesetzliche Vorschriften wie das Behindertengleichstellungsgesetz, die Norm für Bodenindikatoren oder die DIN „Barrierefreies Bauen an Straßen und Plätzen“, die im Herbst 2013 herauskommt. Forderung der Teilnehmenden der Arbeitsgruppen ist, dass diese bundesweit gleichermaßen beachtet und einheitlich umgesetzt werden, in der Praxis geschieht dies heute nicht. Aber auch die Inhalte müssen sich an den tatsächlichen Erfordernissen orientieren: So müssen beispielsweise in Rathäusern nicht die Fronten der Haupttreppen, sondern nur „notwendige” Treppen wie die Feuertreppen für Sehbehinderte entsprechend markiert werden. Auch bei den neuen Wagen der BVG in Berlin zeigt sich, dass die Einstiege nur mit Hilfe zu bewältigen sind und eine bereits bei alltäglichem Dreck fehleranfällige Mechanik haben. Dennoch wurde die Technik als Kompromiss von den beteiligten Behinderten-Verbänden für praktikabel erklärt.

    Einen wichtigen Baustein stellt die Sensibilisierung der Politik dar. Durch die Thematisierung in Fachgremien wie den Gemeindetag oder den Städtetag erfährt das Thema eine neue Gewichtung. Erfahrungsgemäß äußerst wirksam ist auch der Selbstversuch vor Ort für Politiker und Einzelhandel im Rahmen von Aktionstagen. Ebenso sensibilisiert werden müssen natürlich auch die Akteure im Anwendungsbereich wie zum Beispiel Verkehrsunternehmen bzw. Fahrer/innen.

    Inwieweit eine Auszeichnung für Barrierefreiheit, wie sie Berlin erhalten hat, und die sich explizit auch auf den öffentlichen Verkehr bezieht, gerechtfertigt ist, konnte nicht abschließend geklärt werden. Auf der einen Seite ist Berlin noch lange davon entfernt, wirklich barrierefrei zu sein, auf der anderen Seite kann dieser Prozess nie abgeschlossen werden und eine solche Auszeichnung kann eine Motivation auf dem Weg darstellen.

    Deutlich geworden ist: Neben all den geschilderten Faktoren stellt die Verfügbarkeit von Wissen einen grundlegenden Baustein für die Umsetzung von Barrierefreiheit dar. Und nicht zuletzt: Auch ein Lächeln und ein respektvoller zwischenmenschlicher Umgang kann oft Berge versetzen.

    Info:

    Alle Informationen zu ISEMOA sind hier frei zugänglich.

     

    Dieser Artikel von Anna Loffing/ Dipl.-Ing. Katalin Saary ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2013, erschienen. 

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