In der empirischen Mobilitätsforschung hat das Zu-Fuß-Gehen einen schweren Stand. Dabei gibt es viele Faktoren, die den besonderen Stellenwert dieses Verkehrsmittels bestätigen. Hier eine kleine Auswahl.

Der Stellenwert der Fußwege

Dass den Fußwegen in der Verkehrsplanung keine große Bedeutung zukam, habe ich sehr früh erfahren. Als nämlich das Bundesverkehrsministerium 1974 als Reaktion auf die Energiekrise (autofreie Sonntage) eine nationale Mobilitätserhebung durchführen wollte, hatte ich ein passendes Design und ein dafür geeignetes Mobilitätstagebuch schon bereit. Daraus entstand 1975 die erste KONTIV (kontinuierliche Erhebung zum Verkehrsverhalten), die danach in unregelmäßigen Abständen wiederholt wurde.

Bei der Diskussion des (Mobilitäts-) Tagebuches erlebte ich aber eine Überraschung. Mein Tagebuch folgte dem „gesunden Menschenver­stand“: Die Befragten sollten alle Wege eines Stichtages aufzeichnen, egal mit welchem Verkehrsmittel. Dieses Konzept traf im Ministerium auf deutlichen Widerstand. Dort wollte man nichts wissen vom nichtmotorisierten Verkehr und das Tagebuch sollte entsprechend geändert werden. Erst das Argument (aus einem Methoden-Experiment), dass Tagebücher am vollständigsten ausgefüllt werden, wenn die Befragten auch alles eintragen müssen (hier alle Wege) und ein Weglassen der nichtmotorisierten Mobilität auch zu einer Untererfassung der Pkw-Fahrten führen könnte, brachte den Durchbruch.

In der KONTIV 75 lag dann der Anteil der erfassten Fußwege bei einem Drittel, der des nichtmotorisierten Verkehrs bei gut 40 %. Gleich­wohl mussten ähnliche Diskussionen auch bei der KONTIV 82 wieder geführt werden. Da war das Ministerium zwar bei den Fahrradwegen konzilianter, wollte aber immer noch die Erhebung der Fußwege (immerhin noch 30 % aller Wege) verhindern.

Verkehrsmittelwahl

Diese Zeiten sind zum Glück überstanden und die KONTIV 75, 76, 77 und 82 haben dazu einen zentralen Beitrag geleistet Gleichwohl hat das Verkehrsmittel zu Fuß noch immer schlechte Karten in den meisten gängigen Mobilitäts­erhebungen. Hauptursache dafür ist die (international gebräuchliche) Definition des „hauptsächlich genutzten Verkehrsmittels (HVM)“. Dabei wird für alle Etappen eines Weges (z. B. zu Fuß zur Haltestelle – Bus – zu Fuß von der Haltestelle) ein Verkehrsmittel bestimmt (in unserem Beispiel: Bus). Wir hatten darüber in mobilogisch! 1/14 („Wollen Sie nur von Haltestelle zu Haltestelle oder von der Wohnung zum Einkaufen?“) berichtet. Kurz gefasst: Ein Fußweg ist danach nur ein Fußweg, wenn er mit keinem anderen Verkehrsmittel verknüpft ist. Das ist bitter, denn das Zu-Fuß-Gehen ist ja quasi das Schmieröl unserer Mobilität. Fast jeder Weg hat eine(n) oder sogar mehrere Fuß-Anteil(e). Wir wissen das alle; es aber sichtbar zu machen ist nicht so einfach. Um zu quantitativ validen Ergebnissen zu kommen braucht man eine spezielle Methodik und (deutlich) mehr Aufwand als bei den gängigen Verfahren.

Wenn man sich aber dieser Mühe unterzieht und die Alltagsmobilität im Etappen-Format erfasst, erkennt man schnell die überragende Bedeutung der Fußwege und -etappen.

Sowohl in Nürnberg wie auch in Wien liegt der Anteil der eigenständigen Fußwege (HVM) mit 23 bzw. 27 % über dem Durchschnitt deutscher Städte. Ein Weg in Nürnberg besteht aber aus 2,3, in Wien (höherer ÖPNV-Anteil) aus fast 2,5 Etappen (230 bzw. 247 % für die Etappen-Verkehrsmittel). Über die Hälfte dieser Etappen werden zu Fuß zurückgelegt. Würde man die Verkehrsmittelwahl pro Etappe ausweisen, wäre der Fuß-Anteil in Nürnberg nicht 23, sondern 60 % und in Wien nicht 27 sondern 59 %. Und der MIV (also Pkw als Fahrer plus Pkw als Mitfahrer) würde auf 20 (Nürnberg) und sogar 13 % (Wien) schrumpfen.

Walk and Ride

Ein erheblicher Teil dieser Fußweg-Etappen ist verbunden mit der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Auch darüber haben wir in mobilogisch! 1/14 berichtet. Danach ergeben sich im Schnitt pro ÖPNV-Fahrt Zu- und Abgangsetappen von jeweils knapp fünf Minuten; von diesen Etappen werden mindestens 95 % zu Fuß zurückgelegt.

In der inzwischen lebhaften Diskussion über eine stärker werdende Intermodalität (Nutzung verschiedener Verkehrsmittel innerhalb eines Weges) taucht dieser Umstand jedoch kaum auf. Dort ist zwar viel die Rede von neuen „car- und bike-sharing“ Angeboten, Zunahme von „bike and ride“ und „kiss and ride“, aber die älteste, bekannteste und gebräuchlichste Form der Intermodalität (walk and ride) wird nicht beachtet.

Das kann man beispielsweise im Ergebnisbericht zur MiD 2008 (Mobilität in Deutschland) nachlesen. Dort wird eine Grafik zu „Verkehrsmittelkombinationen innerhalb des Hauptverkehrsmittels ÖPV“ gezeigt:

 

Verkehrsmittelkombination

Im Text wird dann erläutert; „Die für die ÖV-
Nutzung interessanten Kombinations­möglichkeiten Pkw-ÖV und Fahrrad-ÖV spielen im Jahr 2008 … eine (noch) untergeordnete Rolle“. Obwohl der ÖV ohne die Verknüpfung mit zu Fuß gar nicht funktionieren würde, ist diese Kombination offenbar „nicht interessant“.

Dabei ist es keineswegs so, dass zu Fuß nur zum unmittelbaren Erreichen der jeweiligen Haltestelle dient. Zunehmend erkennen die Menschen, dass es kein Nachteil sein muss, wenn man fünf, zehn oder mehr Minuten zum Bus oder zur Bahn geht und dass man durch geschickte Planung alleine im Zusammenhang mit der ÖPNV-Nutzung ein tägliches Pensum von 30 Minuten (oder mehr) an körperlicher Bewegung leicht erreicht. Dazu kann man ein oder zwei Stationen früher / später ein oder aussteigen, mit dem Bus in die Nähe der Wohnung fahren und dann durch einen schönen Park nach Hause gehen, in einem speziellen Laden noch einkaufen und vieles mehr. Immer mehr Menschen nutzen inzwischen solche Möglichkeiten, weil es einfach und gleichzeitig flexibel ist, weil man spontan entscheiden und die körperliche Aktivität problemlos in den Alltag integrieren kann. Die Betreiber des öffentlichen Nahverkehrs sehen diese Chance eher nicht. Auf eine App, die uns interessante tagesaktuelle Walk and Ride Möglichkeiten anbietet, werden wir wohl noch lange warten müssen.

Dabei zeigt sich gerade hier die Möglichkeit, mit einfachen Mitteln an der Verbesserung der eigenen Gesundheit zu arbeiten. Unter dem Titel „Mal kurz das Leben verlängern“ berichtet die Süddeutsche Zeitung am 29.07.2014 von einer „Untersuchung im Journal of the American College of Cardiology“. Danach ist es „sinnvoller, Bewegungsmuffel zu ein wenig Aktivität zu motivieren, statt das Wochenprogramm von Trainierten von 150 auf 200 Minuten zu steigern ... Manche Menschen müssen komplett von vorn anfangen, denen nützt ein Übungsplan mit dreimal 45 Minuten Jogging wöchentlich gar nichts“.

Aktive Mobilität

Ja, die Gesundheit ……

Dazu passt, dass bei großen amerikanischen Unter­nehmen mit weitläufigen Parkplätzen, immer die am schnellsten besetzt sind, die entweder ganz nahe an der Arbeitsstätte liegen oder ganz weit von ihr entfernt.

Die Bedeutung aller Verkehrsmittel-Etappen, die körperliche Bewegung auslösen, zeigt auch eine Auswertung zur „Aktiven Mobilität“. In unserem Städtebestand ergibt sich durch Fußwege, Fahrrad­fahrten, Zu- und Abgänge vom ÖPNV oder dem geparkten Pkw ein tägliches Zeitbudget von 29 Minuten. Hinzu kommen elf Minuten die die Menschen der sportlichen Betätigung widmen.

Diese Angaben sind nur Orientierungen; bei (sehr) kurzen Wegen zum Parkplatz mag der Gesundheitseffekt zu klein sein, die Angaben zum Sport sind nicht sehr genau und sagen nichts über die dabei auftretenden Belastungen. Aber sie geben uns Größenordnungen, die die Bedeutung des Zu-Fuß-Gehens illustrieren. Danach wird für (reine) Fußwege genauso viel Zeit aufgewendet wie für Sport. Dieser Zeitaufwand verdoppelt sich nochmal, wenn man die Fuß-Etappen dazurechnet. Nur: Über den gesundheitlichen Wert von Sport (oder auch Radfahren) lesen wir viel, über die Bedeutung solcher Zu-Fuß-Etappen fast nichts.

 

Zufriedenheit beim Zu- und Abgang zur Haltestelle

 

Die Bürgerinnen und Bürger sehen dagegen das Zu-Fuß-Gehen bei Walk and Ride mit Wohlwollen. In Kundenzufriedenheits-Untersuchungen für den ÖPNV werden die Zu- und Abgangsetappen deutlich besser bewertet als die Fahrt im jeweiligen öffentlichen Verkehrsmittel. Auf einer Skala von +100 bis -100 ergibt sich in den genannten Städten für die konkrete Fahrt ein Wert von +39 (siehe mobilogisch! 1/14), für Zu- und Abgang zusammen aber von +64.

Wege mit dem MIV

Eine Aufgliederung dieses Wertes zeigt, dass alle Aspekte, die den Fußweg zur Haltestelle betreffen, sehr positiv bewertet werden.

Dass es nicht – wie oft vermutet – die Zu- und Abgänge sind, die Bürger(innen) von der ÖPNV-Nutzung abhalten, zeigt auch eine aktuelle Kalkulation der Reisezeiten (2013) und ihrer Einschätzung durch Autofahrer. In unseren Beispielstädten werden für alle Pkw-Fahrten die Alternativen im ÖPNV ermittelt. Als Alternative wird gewertet, wenn der ÖPNV-Weg (Tür-zu-Tür; „objektiv“) nicht mehr als 20 Minuten länger oder maximal doppelt so lange dauert und keine Sachzwänge zur Nutzung des motorisierten Individualverkehrs (MIV) bestehen. Diese alternativen Fahrten hätten 32 Minuten gedauert (mit dem MIV 21 Minuten). Die subjektiv eingeschätzten Reisezeiten lagen aber bei 46 Minuten (ÖPNV) und 18 Minuten (Pkw). Das sagt uns viel über den Wert der gebräuchlichen Modelle zur Vorhersage des Verkehrs (die überwiegend mit Vergleichen der – tatsächlichen – Reisezeit arbeiten).

Für uns wichtig ist an dieser Stelle aber etwas anderes: Die Fuß-Komponenten bei Walk and Ride werden realistisch eingeschätzt; der Grund für die Überschätzung liegt ausschließlich in den Fahr-, Umsteige- und Warte-Etappen.

Erwartungen und Erfahrungen

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Zufriedenheit mit einem Verkehrsmittel-Angebot und seiner Nutzung zu messen. Socialdata hat sich intensiv damit befasst, hier validere Instrumente als die einfachen (oft telefonischen) demoskopischen Abfragen zu entwickeln.

Erwartungen und Erfahrungen

 

 

Mode Choice

Ein besonders anspruchsvolles, aber auch ergiebiges Verfahren ist die Ermittlung und der Vergleich von Erwartungen und Erfahrungen. Erwartungen werden in mündlichen Interviews (schriftlich) anhand von 12 - 30 Merkmalen abgefragt, Erfahrungen explorativ für realisiertes Verhalten ermittelt. Hohe Zufriedenheit ergibt sich dann, wenn sowohl Erwartungen als auch Erfahrungen über dem Durchschnitt liegen.

Socialdata hat solche Untersuchungen in sieben Ländern mit identischem Design durchgeführt. Dabei wurden für das Verkehrsmittel zu Fuß 12 - 15 Merkmale strukturiert erfasst und explorativ ca. 120. Diese 120 Merkmale wurden dann so zusammengefasst, dass sie mit den strukturierten vergleichbar waren. Das war bei ca. 85 % der Merkmale möglich. Die verwendete Skala reichte von +100 bis -100; das Gesamt ergibt sich aus dem arithmetischen Mittel aller Merkmale. Der Durchschnitt aller Erwartungen lag bei +37, der der Erfahrungen war deutlich besser (+53).

In den verschiedenen Ländern ergeben sich aber erhebliche Unterschiede. Dabei fällt auf, dass fast alle deutschen und österreichischen Städte im Sektor rechts oben (überdurchschnittliche Erwartungen und Erfahrungen) zu finden sind. Nur Bellingham und das zugehörige Whatcom County zeigen ähnliche Befunde. (Dabei handelt es sich um eine kleine Stadt nordwestlich von Seattle, die in den letzten Jahren sehr erfolgreich die nichtmotorisierte Mobilität gefördert und die motorisierte verringert hat.) Dagegen gruppieren sich die englischen Städte um den Sektor in dem sie jeder, der diese Städte kennt auch vermuten würde: Geringe Erwartungen und eher schlechte Erfahrungen.

Aktive Mobilität

Interessant ist die Stadt Bend. Sie liegt schon fast in den östlichen Bergen von Oregon und wurde in den letzten Jahren zunehmend populär für gutsituierte „Aussteiger und Ruheständler“. Das Fuß- und Fahrrad-Netz in Bend ist beispielhaft und weit über dem Standard amerikanischer, aber auch vieler europäischer Städte. Da verwundert es nicht, dass das amerikanische „Pedestrian and Bicycle Information Center (PBIC)“ die Stadt Bend 2013 mit einem Preis (Silver level) für „Walk Friendly Communities (WFC)“ ausgezeichnet hat (for „its success in working to improve a wide range of conditions related to walking, including safety, mobility access and comfort“).

Dass dabei – wie so oft – wieder nur die „Planerbrille” benutzt wurde, zeigt ein Blick auf die Verkehrsmittelwahl in Bend im Vergleich zu anderen amerikanischen Städten. Die beste Infrastruktur nutzt nichts, wenn es an der Motivation fehlt. Das wurde beim PBIC wohl nicht erkannt.

Das unterschätzte Verkehrsmittel

Das ist in Deutschland natürlich besser wenngleich auch hier – nicht zuletzt mangels geeigneter Daten – die Fußgänger-Perspektive gegenüber der der Planer manch harten Stand hat. Und das, obwohl wir doch zwei große (auch internationale) Konferenzen zum Zu-Fuß-Gehen und Walking gerade erlebt haben. Dabei lässt sich leicht zeigen, wie zu Fuß gehen im Alltag erheblich zur Verbesserung der körperlichen und mentalen Fitness beiträgt.

 

Verlagerte PKW-Fahrten

Im Durchschnitt aller Menschen fallen 29 Minuten täglich auf aktive Mobilität; bei denen, die überhaupt das Haus verlassen, sind es 37. Wer jedoch mindestens einen Weg zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegt „Partizipationsgruppe“), kommt auf fast oder gut eine Stunde. Wer dagegen in seinem Mobilitäts-Alltag Auto fährt, erreicht nur 23 Minuten. Die aktive Mobilität der Fußgänger liegt zweieinhalb Mal so hoch wie die der Pkw-Fahrer. Man schätzt die Wirkungen dieses Unterschiedes inzwischen auf ca. 2 - 3 Lebensjahre.

Und noch etwas darf hier nicht unerwähnt bleiben. Socialdata hat in den letzten 15 Jahren über 400 Projekte zur Reduzierung des Pkw-Fahrens durchgeführt. An diesen Projekten haben über vier Millionen Menschen auf drei Kontinenten teilgenommen (siehe mobilogisch! 1/13 und 2/13). Im Durchschnitt über alle Projekte wurde dabei ein Rückgang des Autoverkehrs um etwa 10 % erreicht. Und das wichtigste Verkehrsmittel für die Verlagerung war nicht das Fahrrad und auch nicht der ÖPNV!

Knapp zwei Drittel der Autofahrten wurden durch „zu Fuß“ ersetzt. (Oft in Verbindung mit einem Wechsel des Zieles; also Einkauf im Nahbereich anstatt im Einkaufszentrum.) Das war so in Perth (ca. 25 Projekte), in Amerika (nationales Demonstrationsprojekt der Federal Transit Administration) und bei zwei großen Demonstrationsprojekten in England („Sustainable Travel Towns“ und „Active Travel Towns“).

In Kürze

Ohne das Zu-Fuß-Gehen ist unsere Alltagsmobilität nicht vorstellbar. Gleichwohl wird dieses wichtig(st)e Verkehrsmittel in Planung und Forschung zu wenig beachtet. Das ist schade, denn nachhaltige Optionen für unsere zukünftige Mobilität werden dadurch vernachlässigt.

Dieser Artikel von Werner Brög ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2014, erschienen. 

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